CD-Besprechung:
Arvo Pärt
CREDO
Paavo Järvi, musikalische Leitung
Alpha Classics, ALPHA 1158
von Dirk Schauß
Manche Geburtstagsgeschenke sind nett gemeint und landen nach drei Tagen im Schrank. Andere haben Bestand. Paavo Järvi hat sich für Letzteres entschieden, als er dem am 11. September 90 Jahre alt gewordene Arvo Pärt eine klingende Widmung schenkt – eine CD, die nicht nur festhält, was Pärt über Jahrzehnte komponierte, sondern auch, wie eng die Wege der beiden Familien miteinander verwoben sind. Man erinnert sich: 1968 dirigierte Neeme Järvi, Paavos Vater, Pärts „Credo“ in Tallinn. Das sowjetische Regime war dermaßen erbost, dass es die Järvis kurzerhand auf die schwarze Liste setzte. Es gibt schlechtere Gründe, die Heimat verlassen zu müssen.
Die heutige Aufnahme, erschienen bei Alpha Classics, ist also mehr als ein bloßes Tonträgerprojekt. Hier spielt das Estonian Festival Orchestra, inzwischen so etwas wie die klingende Visitenkarte eines selbstbewussten Estlands. Die Chöre Ellerhein – mit jugendlicher Frische und erdiger Erfahrung vereint – singen, als hätten sie Pärts Noten im Blutkreislauf. Und am Klavier sitzt Kalle Randalu, der für die estnische Musikszene ungefähr das ist, was der gute Onkel mit der besten Anekdotensammlung für jede Familienfeier darstellt: unverzichtbar. All dies unter der Leitung von Paavo Järvi, der nicht nur dirigiert, sondern so wirkt, als erzähle er dabei auch seine eigene Lebensgeschichte.
Das Programm deckt 45 Jahre Pärt ab, was zwangsläufig bedeutet: von der Geste des aufbegehrenden Jünglings bis zur Gelassenheit des Alters. Gleich „La Sindone“ beginnt mit einem Schlag: ein Aufschrei der Streicher, gefolgt von einem abrupten Verstummen – man fühlt sich an die Erfahrung erinnert, wenn jemand die Tür aufreißt, einen finsteren Blick wirft und dann wortlos wieder verschwindet. In „Fratres“ (für Streicher und Schlagzeug) öffnet sich eine ganz andere Dimension. Der Sog dieses Stücks ist so stark, dass man meint, in eine Tropfsteinhöhle einzutreten. Wer hier noch an Alltagsbanalitäten denkt, ist selbst schuld.
„Swansong“ ist eine Sammlung kantabler Bläserakkorde, die so sakral wirken, dass man fast Lust bekommt, sich unauffällig zu bekreuzigen. „Für Lennart in Memoriam“ dagegen ist Trauermusik ohne Trostpflaster: keine süße Weichzeichnung, sondern scharf geschnittene Linien, die schlicht sagen: Dies war ein schmerzlicher Verlust. Punkt.
In „Da pacem Domine“ zieht Pärt den Teppich wieder Richtung Stille und Andacht, als wolle er nach all der Trauer ein wenig Atem gönnen.
Spannend wird es mit „Silhouette“, einem Werk, das Pärt eigens Paavo Järvi und dem Orchestre de Paris widmete. Hier öffnen Glocken und schwere Akkorde eine Tür, hinter der man das Gefühl hat: Der Meister experimentiert noch immer, er gönnt sich ein Augenzwinkern – „Ihr dachtet, ihr kennt mich längst? Falsch gedacht.“
Der „Cantus in Memory of Benjamin Britten“ gehört ohnehin zum Pflichtrepertoire jedes Pärt-Programms. Hier jedoch wirkt er besonders atmosphärisch: Glocken am Anfang, ein flimmerndes Streichergewebe, das sich wie Nebel über eine Küstenlandschaft legt. Ob Pärt damit tatsächlich Brittens Liebe zur See ehrt? Möglich. Sicher ist: Man hört hier keine Komposition, sondern fast eine Landschaft.
Dann der Bruch: „Mein Weg“ für Streicher und Schlagzeug ist unruhig, getrieben, fast atemlos. So als wollte Pärt sagen: „Ja, auch ich kann Motorik, wenn es sein muss.“ Schließlich das große „Credo“ von 1968, das mit vereinten Chören, Orchester und Klavier auftritt wie ein musikalisches Beben. Es ist zugleich Bekenntnis und Provokation – und wer es heute hört, versteht, warum die Sowjetmacht damals die Stirn runzelte. Ganz am Ende steht das „Estonian Lullaby“, ein schlichtes Schlaflied, das in seiner Reinheit und Ruhe all die dramatischen Ausschläge zuvor sanft zur Ruhe bettet.
Die Tontechnik von Alpha Classics liefert dazu die passende Bühne: weiträumig, aufgefächert, dabei nie steril. Glocken und Streicher haben genau die Balance, die man sich wünscht, wenn man zwischen schwebender Entrückung und druckvoller Energie pendelt.
Die eigentliche Pointe dieser Aufnahme liegt jedoch in der Haltung. Hier musizieren Orchester und Chöre nicht nur korrekt und professionell – sie spielen, als gehe es um ein Stück ihrer eigenen Identität. Man könnte sagen, Järvis Verbundenheit mit Pärt ist nicht bloß hörbar, sondern körperlich spürbar. Und das macht diese CD zu mehr als einer Geburtstagsgeste: Sie ist klingende Heimatkunde, exportfähig in die ganze Welt.
Wer also nach einem Geschenk sucht, das man nicht im Schrank vergisst: Diese Einspielung ist eines. Und man darf leise hoffen, dass Pärt selbst beim Hören hin und wieder lächelt – vielleicht so, wie damals, als er in Jeansjacke und Baseballkappe durch Tallinn spazierte.
Dirk Schauß, 16. September 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
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