Arvo Pärt © britannica.com
Kritisieren kann jeder! Aber die Gretchenfrage ist immer die nach Verbesserung. In seiner Anti-Klassiker-Serie hat Daniel Janz bereits 55 Negativ-Beispiele genannt und Klassiker auseinandergenommen, die in aller Munde sind. Doch außer diesen Werken gibt es auch jene, die kaum gespielt werden. Werke, die einst für Aufsehen sorgten und heute unterrepräsentiert oder sogar vergessen sind. Meistens von Komponisten, die Zeit ihres Lebens im Schatten anderer standen. Freuen Sie sich auf Orchesterstücke, die trotz herausragender Eigenschaften zu wenig Beachtung finden.
von Daniel Janz
Die moderne Orchestermusik macht es sich seit über 100 Jahren zur Aufgabe, neue Klangwelten zu erschließen, alte Formen zu revolutionieren und mit der Tradition zu brechen. Seitdem verstören moderne Klangexperimente das Publikum in einem davor nie dagewesenen Maß und bauen sich selbst und den damit verbundenen Konzertbetrieb ab.
So sehr, dass selbst herausragende Werke, wie von u.a. Aaron Copland, Krzysztof Penderecki, Lera Auerbach, Lili Boulanger, Wojciech Kilar und vielen mehr, ignoriert werden. So kommt es, dass auch ein weiterer der ganz großen Komponisten der Gegenwart in dieser Kolumne erscheinen muss: Arvo Pärt.
Arvo Pärt ist einer jener Komponisten moderner Orchestermusik, die es geschafft haben, neuartige Klangwelten in tonal anmutende und dem Ohr gefällige Strukturen zu gießen. Lange Zeit experimentierte er mit neoklassizistischen oder sogar modernen Formen der Komposition, nur um 1968 in eine künstlerische Krise zu stürzen. Die Mittel schienen ihm ausgeschöpft oder zu sehr an historische Idole angelehnt. Es war, als wäre die Moderne für ihn zur Sackgasse geworden.
Völlig überraschend kehrte er dann 1976 zurück. Und seine neueste Komposition läutete einen persönlichen Umbruch ungeahnten Umfangs ein. Mit dem Klavierstück „Für Alina“ präsentierte er einen bis dahin ungehörten und zugleich aber selbst für Laien intuitiv einleuchtenden Kompositionsstil: Den Tintinnabuli.
Musiktheoretisch komplex ist der Tintinnabuli seitdem eine fürs Ohr absolut eingängige und zugleich in sich schlüssig erscheinende neue Kompositionsschule. Im Wesentlichen setzt Pärt hier als Basis einen klassischen, in Arpeggien gebrochenen Dreiklang ein, dem er eine meist in diatonischen Schritten verlaufende Melodie entgegensetzt. Auf der einen Seite hat er so eine unglaublich ergreifende Stilrichtung Neuer Musik geschaffen. Auf der anderen Seite löst er musiktheoretisch gesehen so die einer jeden Tonart inneliegende Spannung auf, da er Hauptfunktionen und Auflösungen, aber auch Modulationen aus ihrem Fundament bricht.
Es wird zwar stets erklärt, dass Pärts Musik durch diese theoretische Neukonzeption ein inneres Entwicklungspotenzial vermissen lässt. Denn wird der diesem Schema zugrundeliegende Dreiklang verlassen, würde das gesamte theoretische Konzept in sich zusammenbrechen. Entwicklung könne also harmonisch nicht stattfinden, was auch Modulationen unmöglich machen soll.

Diesen angeblichen (und meiner Meinung nach nicht unbedingt nachvollziehbaren) Mangel kann die so von Pärt geschaffene Musik aber ausgleichen. Denn seine Werke stechen durch vollen Klang und eine ungewöhnlich ergreifende Wirkung hervor. Fast wie eine spirituelle Erfahrung, was auch zu Pärt als Person passt: Seit langem ist der als Menschenrechtsaktivist bekannte estländische Künstler ein Anhänger des christlichen Glaubens. Seit 1972 ist er aktives Mitglied der Orthodoxen Kirche – was ihm damals in seiner zur Sowjetunion gehörenden Heimat solche Probleme bereitete, dass er schließlich sogar nach Österreich immigrierte.
Beispiele für die ergreifende Wirkung seiner Musik gibt es inzwischen viele. Das bereits genannte „Für Alina“ als erstes in diesem Stil geschriebene Werk, „Spiegel im Spiegel“, das die innere harmonische Logik aufzeigt, „Tabula Rasa“ mit seinem bewegenden Mittelsatz, „Cantus in Memoriam of Benjamin Britten“, „Stabat mater“… generell ist Pärt seit seiner Stilentwicklung unglaublich produktiv geworden.
Wenn ich ein Lieblingsstück von Pärt wählen müsste, würde ich aber wohl bei „Fratres“ (lat. für „Brüder“) aus dem Jahr 1977 landen. Seit seiner Fertigstellung hat es eine für Neue Musik unglaubliche Verbreitung gefunden und ist in seiner Version für Streichorchester mit Schlagzeug aus dem Jahr 1991 inzwischen wohl am bekanntesten. In diesem sehr leise beginnenden und sich immer mehr steigernden Kleinod legt Pärt eine fast schon mystische Offenbarung dar, die kaum ergreifender sein könnte. In gerade einmal 10 Minuten Musik öffnet er so ein musikalisches Tor zur Ewigkeit. Dadurch gelingt ihm er eine fast allumfassende Sinneserfahrung:
Es ist die Tragik unserer Zeit, dass Pärt trotz seiner Verdiente der Allgemeinheit unbekannt zu sein scheint. Würde man eine Umfrage unter wahllos ausgewählten Menschen starten, so würde wohl selbst unter denjenigen, die klassische Musik regelmäßig hören, kaum jemand etwas mit diesem Namen anfangen können. Obwohl Pärt also zu den erfolgreichsten aktuell lebenden (und in meinen Augen auch zu den besten) Komponisten gehört, ist er in der breiten Gesellschaft (noch) nicht angekommen. Und das ist schade, wenn man bedenkt, welche geniale Musik für Millionen von Menschen dadurch unbekannt bleibt.
Pärt ist damit eines der Beispiel für zeitgenössische Komponisten, die darunter zu leiden haben, dass der Ruf moderner Orchestermusik durch zu viele akademisierte und unsinnliche Experimente oder ideologische Fehlentwicklungen nahezu komplett zerstört wurde. Musik, die sich einem Wiedererkennungswert, intuitiv eingängigen Melodien und ihrer harmonischen Orientierung widersetzt, scheint auf Dauer kein Publikum halten, geschweige denn neues generieren zu können. Beispiele, wie Pärt, wären ein Weg, dieser Entwicklung entgegenzuwirken. Dafür müssten sie aber auch vermehrt gespielt werden. Und das scheint aktuell noch ein Zukunftstraum zu sein…
Daniel Janz, 19. Januar 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Daniel Janz, Jahrgang 1987, Autor, Musikkritiker, Komponist, Stipendiat, studiert Musikwissenschaft im Master:
Orchestermusik war schon früh wichtig für den Sohn eines Berliner Organisten und einer niederländischen Pianistin. Trotz Klavierunterricht inklusive Eigenkompositionen entschied er sich zunächst für ein Studium der Nanotechnologie, später Chemie, bis es ihn schließlich zur Musikwissenschaft zog. Begleitet von privatem Kompositionsunterricht schrieb er 2020 seinen Bachelor über Heldenfiguren bei Richard Strauss. Seitdem forscht er zur Verbindung von Musik und Emotionen und setzt sich als Studienganggutachter aktiv für Lehrangebot und -qualität ein. Seine erste Musikkritik verfasste er 2017 für klassik-begeistert. 2020 erregte er zusätzliches Aufsehen durch seine Kolumne „Daniels Anti-Klassiker“. Mit Fokus auf den Raum Köln/Düsseldorf kann er inzwischen auch auf musikjournalistische Arbeit in Österreich, Russland und den Niederlanden sowie Studienarbeiten und Orchesteraufenthalte in Belgien zurückblicken. Seinen Vorbildern Strauss und Mahler folgend geht er der Frage nach, wann Musik ihre angestrebte Wirkung und einen klaren Ausdruck erzielt.
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