The Chief Conductors Edition auf 15 CDs
Eine persönliche Betrachtung
Warner, RCO 25003 (Limited Edition)
Gustav Mahler (1869-1911) – Alle Sinfonien. Royal Concertgebouw Orchestra.
Chefdirigenten: Riccardo Chailly (1., 5., 10.), Daniele Gatti (2.), Eduard van Beinum (3.), Willem Mengelberg (4.), Bernard Haitink (6., Das Lied von der Erde, 9.), Mariss Jansons (7., 8.).
von Brian Cooper
Immer wieder kommen Archivaufnahmen auf den Markt, die aufhorchen lassen. Den Mahler-Schuber von Brilliant Classics kaufte man damals natürlich wegen der legendären Dritten mit Jascha Horenstein – eine Aufnahme, die längst vergriffen und bis dato gefühlt nur zum Preis eines gebrauchten Kleinwagens zu bekommen gewesen war.
Eine besondere Box ist nun die Chief Conductors Edition des Royal Concertgebouw Orchestra (Koninklijk Concertgebouworkest), in der auf 15 CDs – leider nicht SACDs – alle zehn (!) Sinfonien Gustav Mahlers plus Das Lied von der Erde enthalten sind (die unvollendete Zehnte in der Vollendung von Deryck Cooke). Einige davon waren bereits im Eigenlabel RCO Live erschienen.
Das Concertgebouworkest ist das Orchester, das man zuvorderst mit Gustav Mahler verbindet. Neben Anton Bruckner und Richard Strauss ist es vor allem eben Mahler, der förmlich in die DNA des Orchesters eingepflanzt ist. Der Komponist selbst dirigierte seine Werke in Amsterdam; ein Mahlerfest liegt gerade hinter uns, das erste war 1920; die kerstmatinees der späten 70er und 80er mit Bernard Haitink sind Legende; und von 2009 bis 2011 wurden sämtliche Sinfonien von verschiedenen Dirigenten über zwei Spielzeiten in Amsterdam und auf Tournee dargeboten, die Mehrzahl (2, 3 und 8) vom damaligen Chef Mariss Jansons. Auch wenn es kein offizielles Mahlerfeest war: Das große Plakat, das am Concertgebouw gehangen hatte, ziert noch immer meine Wohnung.
Von den naturgemäß vielen Mahler-Aufnahmen des Spitzenorchesters haben Daniël Esser und Lodewijk Collette eine interessante Auswahl zusammengestellt. Willem Kes, der erste Chefdirigent des Orchesters, ist nicht vertreten, aber das ist er auch nicht im 152-CD-Schrein The Radio Legacy von 2013, weshalb ich vermute, dass es keine Aufnahmen von ihm gibt, und schon gar nicht von Mahler. Auch der designierte achte Chefdirigent Klaus Mäkelä ist nicht vertreten.
Die Erste von 1999 ist eine von vielen guten Aufnahmen des Orchesters; sicher nicht die beste. Unter Riccardo Chailly hört man schönes Aufblühen gegen Ende des ersten Satzes, aber der große Spannungsbogen zeigt sich erst in seinen hier enthaltenen Aufnahmen der 5. und 10. Mariss Jansons gefällt mir besser in der Ersten. (Immerhin „entdeckte“ ich das Amsterdamer Orchester durch Jansons’ Live-Auftritte mit dieser Sinfonie und der Sechsten in Köln.) Chaillys Interpretation ist aber eine von vielen guten, wie gesagt, sie ist sogar sehr gut, aber sie ist nicht sonderlich unterscheidbar von anderen. Es gibt winzige Mängel im Timing, etwa im ersten Mittelteil des dritten Satzes (Oboen, Trompeten).
Die Zweite unter Daniele Gatti von 2016 ist eine sehr gute Aufnahme, der ich live beiwohnen durfte. Schade, dass Gatti am Schluss des ersten Satzes nicht auszählt. Karen Cargill und Chen Reiss singen fabelhaft, und das Orchester legt eine Einspielung vor, die nicht abfällt gegenüber anderen desselben Orchesters an derselben Stätte – nur anders ist. Das Ende gelingt triumphal und überwältigend.
Eine echte Trouvaille ist die Dritte unter Eduard van Beinum vom Holland Festival des Jahres 1957: rauh, radikal, existentiell, im letzten Satz unglaublich zart und unter die Haut gehend. Herrliche Posaunen-, Posthorn und Konzertmeistersoli. Maureen Forrester singt eindringlich. Diese erstaunlich klare Aufnahme macht Lust, nochmal die Sechste zu hören, die van Beinum anderthalb Jahre zuvor, am 7. Dezember 1955, mit dem Concertgebouworkest einspielte (Tahra TAH 614-615).
Willem Mengelberg war sage und schreibe 50 Jahre lang Chef der Amsterdamer, von 1895 bis 1945. Hier ist seine Lesart der Vierten vom 9. November 1939 zu hören. Ein Jahr nach der Kristallnacht ging das Leben weiter, der Ausbruch des zweiten Weltkriegs war gerade zwei Monate her; man kann diese Aufnahme nicht hören, ohne daran zu denken. Anne Frank war zehn Jahre alt und hatte noch fünfeinhalb Jahre zu leben. Natürlich rauscht es gewaltig in dieser Aufnahme, die jedoch ein eindrucksvolles Zeitdokument darstellt. Jo Vincents Sopran ist berührend.
Die Fünfte unter Riccardo Chailly von 1997 ist ein Highlight der Sammlung. Klanglich optimal, berührt sie vom ersten Takt an, voller Dramatik und berührender Momente: die Celli im zweiten Satz, das Horn im dritten, das Adagietto. Man ist förmlich mit im Saal, dessen herausragende Akustik sich über die Stereoanlage überträgt.
Die Sechste unter Bernard Haitink von 2001 ist ähnlich hochkarätig. Es ist eine von vielen grandiosen Aufnahmen Haitinks vor allem mit diesem Orchester. Eine perfekt ausbalancierte, in jedem Takt durchdachte Lesart, vor der man nur seinen Hut lupfen kann. Sehr dicht, zugleich exzellent durchhörbar, eine erlesene Version von vielen Sechsten, die uns Bernard Haitink hinterlassen hat, auch wenn die Trompeten zu Beginn des zweiten Satzes (hier das Scherzo) kurz ein paar ungewohnte Töne anschlagen. Das Hornsolo im Andante klingt exquisit, drängt sich nicht auf.
Als Mariss Jansons die Siebte dirigierte, war er nicht mehr Chefdirigent, wurde aber gefeiert wie ein Rockstar, als er die Bühne des Concertgebouw betrat. Zumindest das Konzert, das ich 2016 besucht habe, war erstaunlicherweise nicht ausverkauft. Mahler und das Concertgebouworkest – auch das bedeutet nicht immer volles Haus. Es war eine beeindruckende Darbietung, die hier nachgehört werden kann.
Die Achte muss man live hören, das wirkt nicht auf CD. Und man sollte in der Stimmung sein: Ich habe sie mehrfach in Berlin und Amsterdam gehört, auch 2011 in der hier festgehaltenen Version mit Mariss Jansons, und brauche sie zumindest in meiner derzeitigen Lebensphase nicht unbedingt. Mahler soll sie zu seiner besten Sinfonie erkoren haben; für mich ist sie, obwohl vom (hier beeindruckenden) orchestralen und sängerischen Aufgebot her seine überwältigendste („Sinfonie der Tausend“), mit Abstand seine schwächste. Aber es war wichtig, sie mit meinen Lieblingsorchestern und -dirigenten gehört zu haben. Besser als hier geht’s nicht.
Das Lied von der Erde dirigierte Bernard Haitink auch 2006 in Amsterdam. Anna Larsson und Robert Dean Smith singen auf hohem Niveau, aber Erstere hat für meinen Geschmack etwas zu viel Vibrato (dabei schätze ich ihre Stimme in unendlich vielen Dritten von Mahler), und Letzterer müht sich doch manchmal, gegen das volle Orchester anzusingen, das hier unter Haitink wunderbarsten Mahlerklang erzeugt. An Christa Ludwig und Fritz Wunderlich (Philharmonia/Klemperer) kommt eben niemand heran.
Bernard Haitink ist es auch, der hier mit der Neunten vertreten ist, in einer Aufnahme von 2011. Wer ihn in seinen letzten Lebensjahren, alterweise und mit kleinen Gesten, Mahlers Sinfonien hat dirigieren sehen, hat ihn hier förmlich vor sich. Von Beginn an ist alles transparent. Haitink konnte die dichteste Partitur aufs Luzideste ausleuchten, ohne dabei den großen Bogen zu vernachlässigen. Was hier zu hören ist, ist groß. Es ist Mahler in Vollendung, das Orchester in Spitzenform.
Zu guter Letzt noch einmal Riccardo Chailly, der im Juni 2000 die Zehnte in der Rekonstruktion von Deryck Cooke dirigierte. Das ist nichts für Puristen, da Mahler nur das Adagio komplettiert hat. Dennoch bin ich ein Fan der Cooke-Fassung, seit ich sie durch Simon Rattles Aufnahme mit dem Bournemouth Symphony Orchestra kennenlernte. Chailly erweist sich hier als vortrefflicher Anwalt eines zu selten in Gänze aufgeführten Werks: Tiefe, Klarheit und Wahrhaftigkeit zeichnen diese Interpretation eines Werks aus, das das Tor zur Moderne weit aufstößt.
Für etwa 70 Euro bekommt man also eine schöne Box, die eine über hundert Jahre währende Mahler-Tradition eines der weltbesten Orchester dokumentiert. Der sehr ausführliche und informative Booklet-Text von Dirk Luijmes liegt auf Niederländisch und in englischer Übersetzung vor.
Persönlich bedeutet es mir sehr viel, ein kleiner Publikumsbaustein in der Geschichte dieses Orchesters zu sein – jemand, der atmet, aber nicht hustet, und der sich am Ende mit dem gesamten Publikum respektvoll, tief angerührt, zum Applaus erhebt.
Unbedingte Kaufempfehlung für all jene, die die Verbindung eines großen Orchesters zu einem großen Sinfoniker nachempfinden wollen.
Dr. Brian Cooper, 27. Juni 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Zusammenfassung:
Nr. 1 D-Dur 1884-1888, revidiert 1909 (Riccardo Chailly, 29. April 1999)
Nr. 2 c-Moll „Auferstehung”, 1888-1894 (Chen Reiss, Karen Cargill, Netherlands Radio Choir, Daniele Gatti, 18. September 2016)
Nr. 3 d-Moll 1893-1896, revidiert 1906 (Maureen Forrester, Toonkunstkoor Amsterdam, Eduard von Beinum, 14. Juli 1957)
Nr. 4 G-Dur 1893-1896, revidiert 1906 (Jo Vincent, Willem Mengelberg, 9. November 1939)
Nr. 5 cis-Moll 1901-1902 (Riccardo Chailly, 10. Oktober 1997)
Nr. 6 a-Moll 1903-1904, revidiert 1906 (Bernard Haitink, 7. Dezember 2001)
Nr. 7 e-Moll 1903-1904 (Mariss Jansons, 28.-30. September 2016)
Nr. 8 Es-Dur „Sinfonie der Tausend“ (Christine Brewer, Camilla Nylund, Maria Espada, Stephanie Blythe, Mihoko Fujimura, Robert Dean Smith, Tommi Hakala, Stefan Kocan, Netherlands Radio Choir, State Choir „Latvija“ (Mariss Jansons, 4. und 6. März 2011)
Das Lied von der Erde (Anna Larsson, Robert Dean Smith, Bernard Haitink, 7. November 2006)
Nr. 9 D-Dur (Bernard Haitink, 13. und 15. Mai 2011)
Nr. 10 Fis-Dur (Fassung von Deryck Cooke, Riccardo Chailly, 18. Juni 2000)
CD-Besprechung: Gustav Mahler/Complete Symphonies klassik-begeistert.de, 31. Mai 2025