CD-Besprechung:
Alpha Classics hat hier einen echten Coup gelandet. Wenn Järvi dieses Niveau hält, wird sein Mahler-Zyklus zu einem der spannendsten der letzten Jahre. Keine verstaubte Pflichtübung, sondern ein Abenteuer. Und Mahler, dieser alte Titan, lebt wieder. Wild. Wach. Großartig.
Gustav Mahler
Sinfonie Nr. 1 D-Dur „Der Titan“
Tonhalle-Orchester Zürich
Paavo Järvi, musikalische Leitung
Alpha Classics, ALPHA1166
von Dirk Schauß
Paavo Järvi dirigiert Mahler, als würde er eine Welt aufreißen. Nach der Fünften stürzt er sich mit dem Tonhalle-Orchester Zürich in die Erste – und alles klingt, als wäre diese Sinfonie gerade erst geschrieben worden. Keine Spur von Patina. Keine Routine. Nur Energie, Neugier und diese Lust, bis an den Rand zu gehen.
Der Anfang: ein Flimmern. Ein Atmen. Diese leise, tastende Bewegung, die sich langsam erhebt, wirkt wie das Erwachen eines Riesen. Kein Schönklang, kein sentimentales Frühlingserwachen. Järvi baut Spannung auf, indem er nichts verschenkt. Die Musik zieht an, kriecht unter die Haut. Das Orchester klingt wie ein einziger Körper – ruhig, aber geladen. Und wenn die Hörner dann anheben, ist das kein Signal, sondern ein Versprechen: Jetzt geht’s los.
Järvi packt diese Erste an, als wäre sie gefährlich. Und sie ist es. Sie will mehr, als hübsch klingen. Sie will schreien, tanzen, fluchen, lieben. Der zweite Satz macht das deutlich: ein Tanz, aber keiner für den Salon. Das stampft, das schwitzt. Kein Feinsinn-Ballett, sondern eine Dorfhochzeit mit zu viel Wein und zu wenig Hemmung. Die schrägen Holzbläser spielen sich ungeniert in den Vordergrund, die Streicher zerren mit. Und Järvi steht mitten drin – feuernd, formend, nie loslassend.
Im dritten Satz zieht die Stimmung den Boden weg. „Bruder Jakob“ als Totengesang – man kennt es, ja, aber so? Nein. Järvi lässt es so trocken beginnen, dass es einem kalt den Rücken runterläuft. Kein falsches Mitleid, kein Zuckerguss. Dann kippt das Ganze in eine Klezmer-Welt, schief, flirrend, kriechend und schmerzhaft lebendig. Hier wird nicht museal gedeutet, hier wird gespielt, als hinge das Leben daran. Ein Tanz auf dem eigenen Grab, aber mit Humor. Nur Bernstein, Kubelik, vielleicht noch Bychkov haben diese Balance so klar getroffen. Järvi reiht sich mühelos ein – mit weniger Pathos, aber mehr Mut.
Und dann das Finale. Da explodiert alles. Die Pauken feuern, das Blech lodert, die Streicher brennen. Kein aufgesetzter Sturm, sondern ein echter. Die Musik kämpft – gegen sich selbst, gegen das Schicksal, gegen die Schwerkraft. Järvi hält die Zügel straff, doch nie zu fest. Er lässt das Chaos zu, aber er dirigiert es wie ein Dramatiker: Szene für Szene, Schlag auf Schlag. Am Ende steht kein Triumph, sondern ein Überleben. Diese Apotheose strahlt, ja, aber sie tut auch weh.
Das Tonhalle-Orchester Zürich spielt, als wäre es auf einer Mission. Kein weichgespülter Wohlklang, kein Luxuspolitur-Sound. Eher ein großes, atmendes Instrument voller Farbe und Risiko. Die Streicher haben Glut, das Holz leuchtet, die Bläser setzen Zeichen. Und das Schlagzeug – endlich mal präsent! – gibt der Musik Rückgrat. Alles wirkt aufeinander eingeschworen, jeder Ton hat Richtung.
Der Klang dieser Alpha-Classics-Produktion trifft genau die Mitte: warm, direkt, körperlich. Keine überproduzierte Studioästhetik, kein Filter zwischen Musik und Zuhörer. Der Raum der Tonhalle Zürich klingt, als stünde man mitten drin. Die Dynamik hat Kraft, aber auch Platz zum Atmen. Das ist kein Klang für Hintergrundhörer – das ist Kino für die Ohren.
Und dann diese CD-Unterteilung der Sätze in kleine Abschnitte – ein kluger Schachzug. Sie macht hörbar, wie strukturiert, wie atmend diese Sinfonie gebaut ist. Jeder Übergang wird zum Kapitel, jedes Kapitel zum Szenenwechsel. So hört man Mahler neu: als Geschichte voller Risse, Sprünge, Umschwünge.
Järvi zeigt mit dieser Einspielung, dass Mahler kein sakraler Mythos ist. Er ist Fleisch, Blut, Zweifel, Lebenshunger. Hier wird nicht erklärt, hier wird erlebt. Keine akademische Glätte, kein interpretatorischer Überbau. Stattdessen: ein Dirigent, der riskiert. Der übertreibt. Der hinhört. Der Mahler spielt, wie Mahler gedacht hat – mit Herz und Verstand und einem Hang zur Grenzüberschreitung.
Diese Erste hat alles, was eine große Aufnahme braucht: Wucht, Transparenz, Seele. Sie packt, weil sie nichts beschönigt. Sie überzeugt, weil sie nicht gefallen will. Und sie bleibt, weil sie etwas erzählt – von Sehnsucht, Übermut und der Lust, in der Musik kurz die Welt zu vergessen.
Alpha Classics hat hier einen echten Coup gelandet. Wenn Järvi dieses Niveau hält, wird sein Mahler-Zyklus zu einem der spannendsten der letzten Jahre. Keine verstaubte Pflichtübung, sondern ein Abenteuer. Und Mahler, dieser alte Titan, lebt wieder. Wild. Wach. Großartig.
Dirk Schauß, 01. November 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
CD-Besprechung: Debussy/Szymanowski, Belcea Quartet klassik-begeistert.de 15. Oktober 2025