Die Freiheit swingt zwischen Paris und New York

CD-Besprechung: „Liberté“ Anna Fedorova, Klavier  klassik-begeistert.de, 19. November 2025

CD-Besprechung: 

Channel Classics hat das hinreißend eingefangen: Dynamik atmet, Nuancen tanzen, das Orchester lebt. „Liberté“ ist kein Album, es ist ein Aufruf – zu tanzen, zu atmen, Grenzen zu sprengen. Fedorova, die Rebellin am Flügel, zeigt: Jazz und Freiheit? Die sind nicht getrennt, sie sind eins. Und in Zeiten, da Ukraine kämpft, klingt das wie ein Versprechen: Die Musik siegt immer. Wer hört, wird nicht nur unterhalten – er wird berührt und vitalisiert.

„Liberté“

Anna Fedorova, Klavier

Orquesta Sinfónica de Castilla y León
Pablo González, musikalische Leitung

Channel Classics, CCS48825

von Dirk Schauß

In einer Welt, die Grenzen immer wieder neu zieht, wirft die ukrainische Pianistin Anna Fedorova mit ihrer neuen Aufnahme eine Brücke aus Tasten und Tönen über den Atlantik. Sie webt ein kühnes Gespräch zwischen französischer Eleganz und amerikanischem Swing – ein Tribut an Komponisten, die Genres wie Zäune ignorieren und Freiheit als Melodie atmen lassen.
Fedorova, geboren 1990 in Kiew, ist keine Debütantin: Schon als Kind explodierte ihre Karriere, ihr Live-Rachmaninoff-Konzert Nr. 2 knackte
35 Millionen YouTube-Views, und sie teilte Bühnen mit Meistern wie Alfred Brendel oder András Schiff. Heute, nach Preisen von Verbier bis Lyon, gründet sie mit ihrem Mann die Davidsbündler Music Academy in Den Haag, um ukrainische Flüchtlinge zu fördern. Hier, unter der Leitung des spanischen Dirigenten Pablo González und der Orquesta Sinfónica de Castilla y León, tanzt sie mit Ravel und Gershwin, umrahmt von Perlen wie Germaine Tailleferres Miniaturen oder Myroslav Skoryks melancholischem Walzer. Es ist, als würde Fedorova flüstern: Freiheit? Die erklingt nicht nur, sie schwingt.

Der Einstieg in Ravels Klavierkonzert g-Dur haut ein wie ein Schluck Champagner – direkt, prickelnd, jedes Detail so nah, dass man die Harfenperlen auf der Haut spürt. Fedorova phrasiert frei, atmend, als würde sie mit dem Orchester atmen, ihr Anschlag weich wie Seide, doch mit Kern. Das Orchester, spritzig und locker, folgt González’ hellwachem Taktstock, der mit der Solistin prächtig harmoniert. Der erste Satz explodiert in einem Feuerwerk aus Jazz-Elementen, die Ravel 1931 aus New York mitbrachte. Man hört die Freiheit: Nicht starr, sondern pulsierend, als würde das Konzert improvisieren.

Dann das Adagio assai, eine Kostbarkeit, die sich losgelöst entfaltet. Fedorova webt den Zauber nicht überzuckert, sondern rein – ein langsamer Blues, der unter die Haut kriecht, mit einem Bass, der wie ein ferner Trompetenruf webt. Es ist, als hielte die Zeit inne, und man spürt, wie Ravel hier die Töne küsst. Das Presto-Finale rast virtuos, mit Spielfreude, die ansteckt: Fedorova jagt die Läufe, das Orchester trommelt mit, und plötzlich ist Klassik kein Relikt, sondern Party. González, der mit seiner Castilischen Sinfoniker das spanische Temperament einbringt, sorgt für Kontraste, die knistern – ein Meisterwerk, das Ravels Transatlantik-Liebe feiert.

Dazwischen atmet das Album auf mit Solo-Stücken, die wie funkelnde Zwischenspiele wirken. Drei Miniaturen von Germaine Tailleferre. Wer ist diese Frau, die man zu Unrecht als Fußnote von Les Six kennt? Geboren 1892 als Marcelle Taillefesse bei Paris, trotzte sie ihrem Vater, der sie enterben wollte, und änderte ihren Namen zu Tailleferre. Die einzige Frau in Cocteaus Avantgarde-Gruppe neben Poulenc und Milhaud, studierte sie am Conservatoire, gewann Preise als Pianistin und Komponistin, heiratete unglücklich, komponierte doch 178 Werke: Ballette, Konzerte, Filmmusiken, oft mit Bitonalität und Cabaret-Swing.

Ihr Stil? Wie eine Marie Laurencin fürs Ohr, zart, doch bissig. Fedorova lässt „Pas trop vite“ schillern wie ein Pariser Bistro-Moment, flink und neckisch; „Valse lente“ walzert träge, mit einem Hauch von Verbotenem; „Impromptu“ funkelt pulsierend, als entstünde es gerade – lebendig, leuchtend, als würde Tailleferre aus dem Schatten treten und zwinkern.

Andrew Blickenderfers „Time Peace“ schwebt als nächste Kostbarkeit herein – leicht, doch mit Hintersinn, wissend und vieldeutig. Blickenderfer, der Bassist und Multi-Instrumentalist aus den USA, Juilliard-Absolvent und Schulmusik-Lehrer, der mit seinem Trio über 60 Stücke schuf, webt hier Minimalismus mit Jazz: Eine Meditation über Zeit, die friedlich atmet, doch Fragen stellt. Fedorova spielt es vielschichtig, als würde sie die Uhren anhalten – ein Hauch von Philip Glass, getränkt in amerikanischem Optimismus, der unter der Oberfläche brodelt.

Aus der Ukraine grüßt Myroslav Skoryks „Valse“ aus der Partita Nr. 5, ein leichter, melancholischer Tanz, der sich aufbäumen möchte, doch sich ziert, bis er sich endlich loslöst. Skoryk, geboren 1938 in Lemberg, entkam als Kind der Deportation in Sibirien dank Stalins Tod, studierte bei Kabalevsky in Moskau und wurde Ukrainens Jazz-Pionier: Seine Filmmusik zu Paradjanovs „Schatten vergessener Ahnen“ mischt Huzulen-Folk mit Rock, und er vollendete unfertige Werke von Lysenko. Held der Ukraine, Akademiemitglied, starb er 2020 – sein Walzer hier, fein dynamisch von Fedorova, trägt die Wehmut eines Volkes, das tanzt, um nicht zu fallen.

Fedorovas eigene „Improvisation on a Theme of Barbara ,Pierre‘“ perlt danach leichtfüßig – eine Hommage, die spielerisch fließt, als würde sie am Kamin jammern, einfach schön und ungekünstelt.

Georges Moustakis „Ma Liberté“, arrangiert für Klavier von Fedorovas Vater Borys, legt sich dann melancholisch um die Seele. Moustaki, der ägyptisch-griechisch-französische Troubadour (1934–2013), geboren als Giuseppe Mustacchi in Alexandria, sang von Exil und Sehnsucht, schrieb Hits wie „Le Métèque“ und wurde Brassens’ Ziehsohn. Sein „Ma Liberté“, ein Chanson von 1970, ist ein Liebesbrief an die Unabhängigkeit: „Ich habe dich lange wie eine seltene Perle gehütet.“ Fedorova tastet es sanft ab, voller Fragen, bis das Hauptthema wie ein weicher Schal webt – ein Konzert für die Seele, das Freiheit nicht brüllt, sondern flüstert.

Der Kontrast explodiert mit Gershwins drei Präludien: Fedorova greift nun mit starker Hand zu, rhythmisch prägnant, jazzig und cool. Das erste Allegro ben ritmato e deciso stampft bluesig, das Andante con moto e poco rubato schwebt intim, das Dritte jagt wieder – authentischer Gershwin, als käme er aus dem Cotton Club.

Der Höhepunkt: „Rhapsody in Blue“, Gershwins 1924-Evergreen, beginnt mit einer leicht schmierigen Klarinette, die Vorfreude weckt. Das Orchester groovt hingebungsvoll frei, Fedorova löst ein mitreißend kontrastreichem Spiel – von swingenden Läufen bis introspektiven Blues-Momenten. González dirigiert es als Ekstase, nicht als Museumstück, und man spürt: Hier verschmelzen Frankreichs Raffinesse und Amerikas Puls zu etwas Neuem.

Channel Classics hat das hinreißend eingefangen: Dynamik atmet, Nuancen tanzen, das Orchester lebt. „Liberté“ ist kein Album, es ist ein Aufruf – zu tanzen, zu atmen, Grenzen zu sprengen. Fedorova, die Rebellin am Flügel, zeigt: Jazz und Freiheit? Die sind nicht getrennt, sie sind eins. Und in Zeiten, da Ukraine kämpft, klingt das wie ein Versprechen: Die Musik siegt immer. Wer hört, wird nicht nur unterhalten – er wird berührt und vitalisiert.

Dirk Schauß, 19. November 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

CD-Besprechung: Maurice Ravel, Nelson Goerner, Klavier klassik-begeistert.de, 2. Oktober 2025

Maurice Ravel, Ma mère l’oye, Wolfgang A. Mozart, Klavierkonzert Es-Dur, Maurice Ravel, L’enfant et les sortilèges Alte Oper Frankfurt, 26. September 2025

Daniels Anti-Klassiker 55: Gershwins „Rhapsody in Blue“ klassik-begeistert.de, 12. Januar 2025

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert