George Gershwin © Joe Ciardiello
Irgendwann sollten eigentlich alle Klischees eines Genres erkannt sein. Doch die Klassische Musik beweist durch Vielseitigkeit und einen fast fundamentalistischen Hang zur Tradition, dass auch die Welt ihrer Klischees vielseitig ist. So zeigte unser Autor in der Vergangenheit bereits 50 Klischees in der Klassischen Musikkultur. Doch damit ist es noch nicht getan. Denn die Aufführungspraxis schafft stets neue.
Zehn neue Folgen widmen sich weiteren so genannten „Klassikern“, von denen man so übersättigt wird, dass sie zu nerven beginnen. Auch dies sind natürlich keine minderwertigen Werke. Doch durch ihre Stellung im Konzertbetrieb ist es an der Zeit, ihnen teils sarkastisch, teils brutal ehrlich zu begegnen, um zu ergründen, warum sie so viel Aufmerksamkeit erhalten.
von Daniel Janz
Wer kennt sie nicht, die „Rhapsody in Blue“? Glaubt man Radiostationen und Konzerthäusern, dann gehört dieses Werk zu den meistgespielten Stücken der Konzertmusik. Regelmäßig thront es in Hitlisten der „Klassischen Musik“ ganz oben, oftmals sogar in den Top 10 der Zuhörerlieblinge. Es scheint, als wäre dies ein Publikumsmagnet und Lieblingsstück der breiten Mehrheit schlechthin. Dabei könnte es kaum ein Stück geben, das weniger mit „Klassischer Musik“ zu tun hat…
Schon seine Entstehungsgeschichte gehört zu den Kuriositäten der Musikgeschichte. Dass es überhaupt existiert, ist ein kleines Wunder. Denn George Gershwin, der von Paul Whiteman 1924 zur Teilnahme an einem Jazzkonzert durch Komposition eines entsprechenden Stücks aufgefordert worden war, hatte zunächst überhaupt kein Interesse daran. Nur, weil Whiteman ihn ungefragt auf die Teilnehmerliste für jenes berüchtigte Konzert setzte, begann Gershwin überhaupt mit der Arbeit an diesem Werk. Zum späteren Ruhm trug dann bei, dass es in jenem Konzert als vorletztes erklang. Offenbar hatten die Kompositionen davor nur wenig begeistert. Vielleicht versetzte „Rhapsody in Blue“ das Publikum auch deshalb in Euphorie.
Heute ist „Rhapsody in Blue“ ein breit diskutiertes Kultstück. Viel zu oft begegnet man ihm im Konzert oder Radio. Zugegeben – das Stück macht es einem einfach. Ohrwurmcharakter hat bereits das markante (und nur unabsichtlich entstandene) Klarinettenglissando zum Anfang der Komposition. Auch der swingende Blues-Charakter des ersten Hauptthemas ist etwas, was in einzelnen Instrumenten sowie im vollen Orchester gut zur Geltung kommt. Und gleichzeitig bietet diese Musik selbst bis heute noch genug fremdartige Klänge, dass sie sich zu den übrigen Klassikern in geradezu moderner Weise abgrenzt und durch ihren lockeren Charakter hervorsticht.
Geht man aber über den Ersteindruck hinaus, verpufft der Effekt schnell. Das beginnt bereit beim Komponisten: Gershwin ist neben diesem glücklichen Volltreffer bei uns ziemlich unbekannt, ja fast vergessen. Das ist auch kein Wunder. So gut wie nichts verband diesen als Blues- & Jazz-Komponisten sowie als Improvisateur bekannten Künstler mit „Klassischer Musik“. Von sinfonischen Formen oder Orchestersatz hatte er bis zuletzt keine Ahnung. So geht die heute bekannte Version für Sinfonieorchester auch nicht auf ihn, sondern auf Ferde Grofé zurück.
Und da beginnt das Manko, denn technisch ist diese „Komposition“ selbst in Grofés Version nichts Anderes, als eine Aneinanderreihung von (harmonisch variierten) Wiederholungen. Form? Funktionalität? Thematische Arbeit? Entwicklung? Alles jenseits vom Improvisationstalent am Klavier entweder nicht vorhanden oder nur primitiv gestaltet. Das Stück setzt zwar Ansprüche an die Filigranität des Pianisten, ist aber ansonsten so platt, plump und simpel, dass selbst berüchtigte Werke, wie Ravels Boléro oder Schostakowitschs siebte Sinfonie ihm den Rang ablaufen.
Dieses Manko fiel auch schon Zeitzeugen auf. Bereits zur Uraufführung gab es ein breites Maß an Meinungen, die von völliger Begeisterung bis hin zu totaler Ablehnung reichten. Und sogar Fürsprecher, wie Olin Dowes von der New York Times, erkannten das außergewöhnliche Talent eines Komponisten, „der mit einer Form kämpft, von deren Beherrschung er weit entfernt ist“. Lawrence Gilman vom New York Tribune attestierte stattdessen, „wie kitschig und flach die Harmonien (…) versteckt unter einem umständlichen und wertlosen Kontrapunkt“ seien.
Auch andere Künstler taten sich schwer. So sind ablehnende Worte auch von Schönberg überliefert, der im Gegensatz zu Gershwin mit seiner Musik bis heute zum Publikumsverdruss beiträgt: „Der Eindruck ist der einer Improvisation (…)[vergleichbar] mit einer schwungvollen Rede, die enttäuschen mag, wenn man sie liest“. Selbst im späten 20. Jahrhundert riss die Kritik nicht ab. Noch 1982 meinte Leonard Bernstein, der dieses Werk schätzte, mehrfach aufführte und sogar selbst spielte: „[Dies] ist keine Komposition im wahren Sinne des Wortes. Dazu fehlt es ihr an innerer Konsequenz und Folgerichtigkeit. Alles scheint willkürlich.“
Trotzdem ist ihr Bann bis heute ungebrochen. Es ist, als wäre das Publikum süchtig danach. Ob dies an der ständigen Wiederholung im Konzertbetrieb, an der simplen Struktur oder an Bequemlichkeit liegt, kann man nur spekulieren. Einleuchtender scheint, dass die „Rhapsody in Blue“ durch ihren abwechslungsreichen Charakter und scharfen Kontrast zur ansonsten oft anspruchsvollen, formal überstrukturierten „Kunstmusik“ wohl ein Bedürfnis nach intuitiv verständlicher Musik erfüllt. Inzwischen gehört sie jedenfalls zu denjenigen Traditionen, die im Konzertbetrieb zementiert zu sein scheinen, egal wie viel oder wenig Qualität sie zu bieten haben.
Mit dieser Feststellung ist „Rhapsody in Blue“ auch Beweis dafür, dass es nicht das ausgefallene, technisch versierte oder weltbewegend neue Klangereignis braucht, um einen Klassiker zu schaffen. Aus Publikumsperspektive scheinen Eingängigkeit, Wiederholung und Charme viel wichtiger zu sein. Abwechslung würde ich zwar auch als wichtigen Punkt nennen. Die Beliebtheit von „Rhapsody in Blue“ und anderen Klassikern, wie dem bereits genannten Boléro, zeigt aber, dass es schon reicht, wenn Abwechslung nur die Klangfarbe oder das Instrument betrifft. Ob damit gute Musik geschaffen werden kann, darf herzlich bezweifelt werden. Die technische Armut dieser Komposition geht ja so weit, dass sie sogar Gershwin selber auffiel.
Aber es reicht, um bis heute publikumswirksam zu sein. Und wenn das etwas aussagt, dann wohl vor allem, dass Form und Qualität weniger wichtig zu sein scheinen, als der Ohrwurmcharakter. Wir müssen uns fragen: Ist das auch das Fazit, das wir für uns selbst gelten lassen wollen? Ich jedenfalls kann die „Rhapsody in Blue“ nicht ausstehen und wünsche mir auch in moderner Musik einen gewissen Anspruch, wenn auch nicht auf Kosten der Eingängigkeit. Wie ist es mit Ihnen?
Daniel Janz, 11. Januar 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Daniel Janz, Jahrgang 1987, Autor, Musikkritiker, Komponist, Stipendiat, studiert Musikwissenschaft im Master:
Orchestermusik war schon früh wichtig für den Sohn eines Berliner Organisten und einer niederländischen Pianistin. Trotz Klavierunterricht inklusive Eigenkompositionen entschied er sich zunächst für ein Studium der Nanotechnologie, später Chemie, bis es ihn schließlich zur Musikwissenschaft zog. Begleitet von privatem Kompositionsunterricht schrieb er 2020 seinen Bachelor über Heldenfiguren bei Richard Strauss. Seitdem forscht er zur Verbindung von Musik und Emotionen und setzt sich als Studienganggutachter aktiv für Lehrangebot und -qualität ein. Seine erste Musikkritik verfasste er 2017 für klassik-begeistert. 2020 erregte er zusätzliches Aufsehen durch seine Kolumne „Daniels Anti-Klassiker“. Mit Fokus auf den Raum Köln/Düsseldorf kann er inzwischen auch auf musikjournalistische Arbeit in Österreich, Russland und den Niederlanden sowie Studienarbeiten und Orchesteraufenthalte in Belgien zurückblicken. Seinen Vorbildern Strauss und Mahler folgend geht er der Frage nach, wann Musik ihre angestrebte Wirkung und einen klaren Ausdruck erzielt.
Daniels Anti-Klassiker 53: Antonín Dvořák klassik-begeistert.de, 17. November 2024
Daniels Anti-Klassiker: Mozarts Jupiter-Sinfonie klassik-begeistert.de, 8. Dezember 2024
Hey Daniel, verhält es sich denn mit der musikalischen Komposition so wie mit einem Aufsatz?… Inhalt eigentlich gut, aber Formfehler – Inhalt eigentlich gut, aber Rechtschreibfehler? Worauf kommt es an? Was kann man vernachlässigen, also überhören oder übersehen? LG
Renate Welk
Hallo Rana,
wie schön, dass du hierhergefunden hast und dich auf so eine Diskussion einlässt. Das mit der Form ist tatsächlich eine Sache, die in der Klassik verankert ist. Alles, was als „Kunstmusik“ bezeichnet wird, ist auf Formkriterien aufgebaut. Die Sonatenhauptsatzform ist davon sicher eine der bekanntesten, es gäbe aber auch weitere Formen… die Liedform, das Rondo, Variationszyklen, Ouvertüren, Tanzformen… die Orchestermusik ist da sehr divers. Insofern kannst du Musik und Literatur ideal miteinander vergleichen. Betrachte die Noten wie Buchstaben, Themen und Melodien wie Worte und Sätze, einen Sinfoniesatz oder Teil als Absatz einer übergeordneten Geschichte oder eines Diskussionsthemas. Besonders bei Programmmusik hast du hier einen fast 1 zu 1 möglichen Vergleich zur Literatur mit dem einzigen Unterschied, das in der Musik die Wiederholung und Veränderung den Motiven und Themen Bedeutung gibt (in der Literatur hast du stattdessen ein Problem, wenn du ein und dasselbe Wort zu oft wiederholst, da bietet sich also dann eher der Vergleich zwischen musikalischem Motiv und der hinter einem literarischen Text versteckten Grundbotschaft – dem „theme“ an). Diese Wiederholung und Veränderung sollte aus der musikalischen Form erfolgen, insofern folgt sie immer sehr klar definierten Regeln und Vorgehensweisen, die sich über die Jahrhunderte zwar verändert und erweitert haben. Zentral bleibt aber immer die Folgerichtigkeit auf Basis harmonischer, formeller oder bedeutungsbezogener Regeln. Dass „Rhapsody in Blue“ sich um diese Regeln nicht schert, weil der Komponist sie nicht kannte, ist der ganz große Kritikpunkt an diesem Werk. Deshalb wird es unter Kennern von „Klassischer Musik“ auch oft mit einem nicht so schmeichelhaften Augenzwinkern betrachtet.
Gleichzeitig illustriert dies den unrühmlichen Zustand, vor dem wir heute im Bereich der Orchestermusikkomposition stehen. Das Problem entsteht in der Musik da, wo man sich zu sehr auf die Form versteift. Denn diese in der Musikausbildung verankerte Formenlehre hat das Selbstverständnis der Klassischen Musik als Genre geprägt und zu solch absurden Ausmaßen geführt, dass heutzutage nichts mehr gelten gelassen wird, was die Form nicht erfüllt. Was also bei Mozart und Beethoven noch Mittel zum Zweck war ist spätestens seit Schönberg Mittel zum Selbstzweck geworden (auch wenn die Grundlagen dafür viel früher anzusiedeln sind). Das hat inzwischen so krasse Ausmaße erreicht, dass du heutzutage nur noch als Komponist ernst genommen wirst, wenn du entweder sklavisch an der Form hängst und dadurch „tote Musik“ erzeugst, die nur noch sich selbst und ihre Formversessenheit zum Gegenstand hat (das hatte ich auch schon bei Brahms diskutiert: https://klassik-begeistert.de/daniels-anti-klassiker-52-johannes-brahms-mit-seinen-haydn-variationen-klassik-begeistert-de-27-oktober-2024/ ) oder aber wenn du das alles komplett ablehnst und irgendwas ganz, ganz neues mit einer ebenfalls komplett neuen Form schaffst. Als würdest du neu erfinden wollen, was Musik ist.
Das Ergebnis ist, dass Klassische Musik als Genre heutzutage ein totes Genre ist, weil zwischen diesen beiden Extremen nichts mehr zugelassen wird. Komponisten, die Formen lose variieren oder mit ihnen spielen wollen, findest du spätestens seit Untergang der Sowjetunion nicht mehr und auch dort war es nur möglich, weil der Kulturbetrieb dort alles, was neuartig war, ironischerweise als „Formalismus“ geächtet, verfolgt und sogar bestraft hat. Heutzutage hast du als Komponist, dem noch etwas an Werten, wie Melodik und harmonischem Verständnis liegt, nur noch eine Chance, wenn du auf irgendeinem Weg an ein persönliches Privatorchester kommst oder aber einen Millionär als Mäzen hast.
Die einzigen Formen von aktueller Orchestermusik, die davon ausgenommen zu sein scheinen und in einem merkwürdigen Hybridstatus zwischen den Extremen der Formversessenheit und dem Credo des Fortschritts existieren, scheinen mir die Kompositionen von Film- sowie Computerspiele-Komponisten zu sein. Das sind jedenfalls die einzigen Bereiche, in denen heutzutage noch kulturell wirksame und auch langlebig überdauernde Orchestermusik geschaffen wird.
Liebe Grüße,
Daniel