Daniels Anti-Klassiker 9: Dmitri Schostakowitsch – Sinfonie Nr. 7 „Leningrader“ (1941)

Daniels Anti-Klassiker 9: Dmitri Schostakowitsch – Sinfonie Nr. 7 „Leningrader“ (1941)

Höchste Zeit, sich als Musikliebhaber neu mit der eigenen CD-Sammlung oder der Streaming-Playlist auseinanderzusetzen. Dabei begegnen einem nicht nur neue oder alte Lieblinge. Einige der sogenannten „Klassiker“ kriegt man so oft zu hören, dass sie zu nerven beginnen. Andere haben völlig zu Unrecht den Ruf eines „Meisterwerks“. Es sind natürlich nicht minderwertige Werke, von denen man so übersättigt wird. Diese sarkastische und schonungslos ehrliche Anti-Serie ist jenen Werken gewidmet, die aus Sicht unseres Autors zu viel Beachtung erhalten.

von Daniel Janz

Was war Schostakowitschs siebte Sinfonie doch für ein weltbewegendes Ereignis, als sie zum ersten Mal aufgeführt wurde. Deutschland und Russland befanden sich mitten im Zweiten Weltkrieg. Der Aufführungsort „Leningrad“ wurde gerade belagert und bombardiert, Schostakowitsch selber war kurz zuvor noch von dort evakuiert worden. Der historische Wert einer solchen Komposition ist wohl kaum überzubewerten. Was also macht so ein bedeutendes Zeitdokument in einer Serie über überbewertete Klassiker? Ist die nicht selten mit Beethovens „Eroica“ verglichene „Leningrader“ etwa gar kein Geniestreich, wie so oft behauptet?

Man kann es nicht anders sagen; diese Sinfonie ist eine Riesenschwarte. Zeitlich aufgebläht auf 80 Minuten, gesetzt für großes Orchester inklusive doppelter Blechbläserbesetzung (teilweise in der Ferne) und diverser Sonderinstrumente wie Altflöte, Klavier und Xylophon bietet sie alles, was eine großartige Komposition darstellen könnte. Dazu der Krieg gegen das Böse, personifiziert durch die Nazis, dem Schostakowitsch sich als Vorzeigekomponist der Sowjetunion annahm: Eigentlich Garant für einen zeitlosen Klassiker! Wenn die Musik selbst nicht wäre…

Dass die Musik Probleme aufweist, veranschaulichen bereits Zeitzeugen. Da finden sich Aussagen wie von Arnold Schönberg, der Schostakowitsch „bei dieser Art von Musik“ dankbar war, dass er nicht schon seine „77. Sinfonie geschrieben hat“ und der in den 80 Minuten Musik nur Material für 30 Minuten Unterhaltung erkennen konnte. Paul Hindemith soll dieses Werk sogar als „unmöglichen Mist“ bezeichnet haben.

Nun sind Hindemith und Schönberg selbst keine unumstrittenen Figuren der europäischen Musikgeschichte. Beide Statements weisen aber auf Schwächen der Komposition hin, die sich auch nachvollziehen lassen. Lässt man einmal den gesamten historischen Ballast beiseite, kann dieses Werk rein musikalisch jedenfalls nicht mit anderen bahnbrechenden Sinfonien oder Opern und selbst Werken desselben Komponisten mithalten.

Die Probleme beginnen schon beim ersten Satz, der zwar Reminiszenzen an frühere Werke Schostakowitschs enthält und zum Einstieg eine friedvolle Idylle mit markigen Themen und malerischen Ansätzen zeichnet. Diese werden aber bedauerlicherweise nicht weiterverfolgt, denn Kernstück dieses Satzes ist eine Marschepisode, die stoischer kaum sein könnte. Über zehn Minuten finden die einzigen Variationen durch abwechselnde Instrumente und die Lautstärke statt, als hätte Schostakowitsch hier seinen eigenen Bolero geschrieben.

Das kann gelingen, der Bolero von Ravel ist schließlich auch ein renommiertes und weltbekanntes Stück europäischer Musikgeschichte. Diese Komposition lebt aber nicht nur von raffinierter Abwechslung der Klangfarben, sondern auch von seiner kontinuierlichen Steigerung hin zu einem durchschlagenden Höhepunkt.

Schostakowitschs Musik fehlt nicht nur diese Raffinesse. Er führt auch im kumulierenden Eskalationsmoment die Stimmung nicht konsequent durch. Seine Musik steht gerade an der Schwelle zum Durchbruch, kippt stattdessen aber unvermittelt ins Mono-Melodische und verendet im Schmachten. Eindrucksvolleres kennt man aus seiner zehnten oder der düsteren achten Sinfonie, die sich bis in einen zerstörerischen Paukenwirbel inklusive Tamtam ergießen. Oder aus seiner brutalen vierten, die zum Höhepunkt einen zwölftönigen Akkord im 5-fachen Forte fordert – ein ohrenbetäubender Lärm, der selbst hartgesottene Konzertbesucher das Fürchten lehren dürfte.

Die in diesen Satz hineingedeutete Eroberung Leningrads durch die Nazis wirkt deshalb – ungeachtet des Bezugs zu Hitlers Lieblingsoperette – musikalisch nicht überzeugend, trotz entsprechender Deutung durch die Sowjetunion und darauf aufbauender großer Beliebtheit unter den Gegnern des Faschismus inklusive der USA.

Die Marschmusik selbst hat kein bedrohliches Element, teilweise wirkt sie grotesk fröhlich, an anderen Stellen durch bewusst schräge Harmonien komisch. Vielleicht ist das ein Versuch, den Schrecken des Kriegs lächerlich zu machen? Oder es ist doch eine versteckte Stalinkritik, wie sie in Deutschland unreflektiert gerne in diesen Satz hineingedeutet wird? Eindeutig ist es genauso wenig wie abwechslungsreich.

Bezeichnenderweise ist ausgerechnet der erste Satz der stärkste der ganzen Sinfonie. Denn was er durch an Überdruss grenzende Ordnung und Wiederholung zu viel hat, findet sich im zweiten elegischen Satz noch teilweise wieder, geht in den letzten beiden aber spurlos verloren. Diese zu einem viel zu langen Abschnitt zusammengefassten zwei Sätze bieten weder klare Melodien, noch lassen die dramaturgisch sehr unterschiedlichen Episoden einen Bezug zueinander erkennen.

Erneut finden sich hier für sich genommen zwar spannende Melodiefetzen. Doch fehlt ein erneutes Aufgreifen derselben genauso wie eine Verarbeitung – in motivisch geordneter Musik, wie der von Schostakowitsch, ist das eine Bankrotterklärung und ein Garant für Überdruss.

Darüber hinaus erschließt sich auch der Einsatz des Fernorchesters nicht. Dieses wird in der Regel zur Untermalung des Klangapparats genutzt, aber nicht, um eigene Akzente zu setzen oder gar programmatisch in Erscheinung zu treten. Der Eindruck „aus der Ferne“ geht in dieser Komposition so unter, dass einige Dirigenten gleich ganz darauf verzichten und die Musiker auf der Bühne mit dem restlichen Orchester positionieren. Wozu also braucht Schostakowitsch diese zusätzlichen 10 Musiker?

Musikalisch ist das in der Summe eine Sinfonie, die mehr ernüchtert als bewegt. Dieses Werk ist somit Beispiel dafür, dass Größe nicht automatisch Hochwertigkeit bedeuten muss und erst recht nicht alles, dem Weltruhm zugeschrieben wird, diesen auch halten kann. Mich persönlich ärgert dieses verschwendete Potenzial in einem Werk voller interessanter Ansätze und Melodiefetzen, die nicht konsequent durchgeführt werden, maßlos.

Darüber hinaus ist die Verbindung dieser Musik zu ihrem politischen Assoziationsgehalt kaum erträglich. Denn in der Konsequenz wird das Musikalische in den Hintergrund gedrängt. Der Fokus der Aufmerksamkeit wird auf politische Stellvertreterdebatten und ideologische Diskurse gelenkt – über diese Sinfonie noch im Sinne von Musikkritik zu sprechen, ohne eine Abhandlung über Schostakowitschs Gesinnung in der Sowjetunion zu schreiben, wird fast unmöglich und das nicht erst, seit durch Solomon Wolkows Ausführungen die jüngere Schostakowitsch-Forschung krampfhaft versucht, ihn als Dissidenten des Stalinismus zu personifizieren.

Solche Instrumentalisierung von Musik ist ein perverser Schachzug, der im übertragenen Sinne auch heute schamlos genutzt wird, um (nicht nur musikalische, sondern auch filmische und künstlerische) Mittelmäßigkeit zu vermarkten. Diese Sinfonie war jedenfalls durch die Art der Bedeutungsüberblähung damals hoffnungslos überbewertet und ist in der Konsequenz heute hoffnungslos überinterpretiert.

Daniel Janz, 23. April 2021, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Daniel Janz, Jahrgang 1987, Autor, Musikkritiker und Komponist, studiert Musikwissenschaft im Master. Klassische Musik war schon früh wichtig für den Sohn eines Berliner Organisten und einer niederländischen Pianistin. Trotz Klavierunterricht inklusive Eigenkompositionen entschied er sich gegen eine Musikerkarriere und begann ein Studium der Nanotechnologie, später Chemie, bis es ihn schließlich zur Musikwissenschaft zog. Begleitet von privatem Kompositionsunterricht schrieb er 2020 seinen Bachelor über Heldenfiguren bei Richard Strauss. Seitdem forscht er zum Thema Musik und Emotionen und setzt sich als Studienganggutachter aktiv für Lehrangebot und -qualität ein. Seine erste Musikkritik verfasste er 2017 für Klassik-begeistert. Mit Fokus auf Köln kann er inzwischen auch auf musikjournalistische Arbeit in Österreich, Russland und den Niederlanden sowie Studienarbeiten und Orchesteraufenthalte in Belgien zurückblicken. Seinen Vorbildern Strauss und Mahler folgend fragt er am liebsten, wann Musik ihre angestrebte Wirkung und einen klaren Ausdruck erzielt.

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