POSTER: Karikatur von Johannes Brahms, Komponist von Neale OsborneBridgeman Images
Irgendwann sollten eigentlich alle Klischees eines Genres erkannt sein. Doch die Klassische Musik beweist durch Vielseitigkeit und einen fast fundamentalistischen Hang zur Tradition, dass auch die Welt ihrer Klischees vielseitig ist. So zeigte unser Autor in der Vergangenheit bereits 50 Klischees in der Klassischen Musikkultur. Doch damit ist es noch nicht getan. Denn die Aufführungspraxis schafft stets neue.
Zehn neue Folgen widmen sich weiteren so genannten „Klassikern“, von denen man so übersättigt wird, dass sie zu nerven beginnen. Auch dies sind natürlich keine minderwertigen Werke. Doch durch ihre Stellung im Konzertbetrieb ist es an der Zeit, ihnen teils sarkastisch, teils brutal ehrlich zu begegnen, um zu ergründen, warum sie so viel Aufmerksamkeit erhalten.
von Daniel Janz
Der Variationszyklus ist eine Musikgattung, in der ein Thema in stets veränderter Form wiederholt wird. Entwicklung steht nicht im Vordergrund, sondern die Wiedererkennbarkeit bei Anpassung melodischer, rhythmischer, harmonischer oder satztechnischer Gestalt. Variationszyklen bilden für gewöhnlich keine Handlung oder Kontraste mehrerer Themen ab. Als „rein musikalische Schöpfung“ gelten sie deshalb seit Jahrhunderten als „musikgeschichtlich abgeschlossen“, beschränkt und absurd.
Das letzte Statement stammt nicht etwa von mir, sondern von Richard Strauss, der in einer Tagebuchnotiz darüber reflektierte, warum er für seinen Don Quixote einen Variationszyklus schrieb. Strauss betrachtete diese Gattung als ausgereizt, in ihrer Entwicklung rückständig und sogar als rein musikalisch-akademische Denkübung ohne Zukunftspotenzial. Er sah ihre Verwendung als so unsinnig an, dass ihm die einzig sinnvolle Nutzung die „Darstellung von nichtigen Phänomenen“ zu sein schien.
Ob Strauss mit dieser Aussage Brahms direkt kritisieren wollte, ist nicht bekannt. Doch seine Worte passen als Kritik an Brahms. Denn legt man sie wie Mathias Hansen in „Richard Strauss – die Sinfonischen Dichtungen“ aus, fällt ein Unterschied auf. Während nämlich Strauss die Darstellung hervorhebt, weshalb er diese Gattung nur noch als Ausdruck des Banalen gelten lässt, geht es Brahms um ein historisch ästhetisches Verständnis. Oder wie Strauss gesagt hätte: die „Aushöhlung der Form“.
Damit kommen wir zum Grund, warum sich der in der Konzertpraxis so etablierte Variationszyklus von Johannes Brahms in einer Kolumne über Klischees und Probleme der Klassischen Musik wiederfindet. Mit den so genannten „Variationen nach einem Thema von Haydn“ schuf der „Nachfolger von Beethoven“ ein Werk, das sich bis heute hält und als Paradebeispiel einer ganzen Gattung betrachtet wird.
Und dieses Werk hat es bereits geschichtlich in sich. Lange wurde behauptet, es basiere auf einem Thema des Großmeisters Joseph Haydn. Eine Geschichte, zu schön, um wahr zu sein: wissenschaftlich ist inzwischen erwiesen, dass das zugrunde gelegte Thema nicht von Haydn stammt. Im englischsprachigen Raum ist man mittlerweile sogar so weit, dieses Werk vornehmlich als „Saint Anthony Variations“ aufzuführen, da der Verdacht nahe liegt, dass Brahms hier eine Widmung an Haydn missverstanden oder bewusst umgedeutet und den echten Komponisten verschwiegen haben könnte. Bis heute wird über den eigentlichen Urheber spekuliert.
Ob also wissentlich oder unabsichtlich – Brahms bediente sich mit der Wahl des Titels einer Lüge, die ihn in direkte zeitliche und geistige Nachfolge von Haydn, Mozart und Beethoven stellte. Kaum ein anderes Werk hätte damit bereits von seiner Anlage her die Stellung von Brahms als Erbe dieser drei Giganten so zementieren können. Die zeitgenössische Musikkritik fiel auch komplett darauf rein, betitelte es sogar als die erste echte Orchestervariation überhaupt. Auch ein Fehler: Mindestens Antonio Salieris 26 Variationen „La folia di Spagna“ gab es schon 60 Jahre früher.
Man muss also fragen, ob dieses Werk Brahms’ Ruhm und Ruf so sehr gefestigt hätte, wenn der wahre Hintergrund bekannt gewesen wäre. Denn passender Weise fiel seine Entstehung in eine Zeit, die für Brahms nicht immer erfolgreich war, jedoch langsam im Aufwind begriffen schien. Heutige Marketingexperten würden sich bei so einem Glücksgriff jedenfalls die Hände reiben und schon einmal die Millionen zählen.
Aber die Kontroverse um den Titel ist nur ein Problem. Ein anderes ist die Machart. Als Variationszyklus stellt diese Komposition das ihr zugrunde gelegte Thema vor, wiederholt es, peppt es mit einem Saitenthema auf und wiederholt alles noch einmal, nur um es dann ganze 8 Mal in veränderter Gestalt (mit mal mehr, mal weniger Wiedererkennungswert) durchzukauen bevor sie das Thema am Ende noch einmal als großen Wurf zelebriert. Abwechslung findet also nur im Sinne der Umgestaltung und damit ausschließlich auf technischer Ebene statt. Klassisch geschulte Ohren dürften diese Komposition deshalb als Ausdruck hoher Kompositionsfertigkeit feiern.
Moderne Ohren demaskieren solch ein Treiben aber als reines Formspiel. Denn im Kern stellt dieses Werk nur ein akademisches Tüfteln an Noten dar, ohne den Anspruch sinnlicher Erlebnisse zu verfolgen. Für jemand, der 3-minütige Pop-Songs oder abwechslungs- und effektreiche Scores aus Film, Serien und Videospiel kennt, ist so ein Formalismus pure Langeweile. Tatsächlich wurde der Vorwurf vom Formalismus keine 50 Jahre nach Brahms’ Tod sogar dazu missbraucht, Komponisten in manchen Teilen der Welt zu denunzieren und zu unterdrücken.
Strauss selbst wäre vermutlich nicht so weit gegangen. Dennoch erhält seine Kritik vor diesem Hintergrund einen anderen Beigeschmack. Als reine Schöpfung der Abstraktion fehlt dieser Musikart jedenfalls der intendierte Ausdruckscharakter von z.B. Oper, Programm- oder Filmmusik. Stattdessen ist sie Beispiel dafür, warum über Jahrhunderte gesanglose Instrumentalmusik als primitivste Form aller Künste galt. Brahms Werk hätte damit gerade noch als Studienobjekt eine gewisse Berechtigung. Es automatisch deshalb als Meisterwerk zu feiern, ist mindestens aber fragwürdig.
Viel fataler ist aber, dass sich die Konzerttradition bis heute nicht von solchen Studienexperimenten emanzipiert hat, sondern sie als höchste Form von Ausdruck und Handwerk feiert. Dieser verzerrte Fokus darauf, was Musik auszeichnen soll, hat mit den größten Fehler der klassischen Musiktradition begründet. Denn nur, weil solche Werke so in den Vordergrund gedrängt wurden, war es möglich, Technik bedingungslos im erstickenden Formfetischismus der Modernisten zu forcieren – ein Credo, das Komponisten bis heute lähmt, wenn es darum geht, Neues zu schaffen.
Tatsächlich lassen die elitären Strömungen im Klassik-Betrieb heutzutage immer noch fast nur diese „absolute Musik“ als Höchstform aller Kunst gelten. Sehr zum Leidwesen von Publikum und jungen Talenten, die regelmäßig verprellt werden. Denn betrachtet man die stetig sinkenden Zuhörerzahlen, muss man feststellen, dass dieses Credo nach Absolutem nicht dem Publikumswunsch zu entsprechen scheint.
Eher scheint es, als hätte Strauss, der selber ein ausgezeichneter Experte musikalischer Formenlehre war, durch seine unorthodoxe Anwendung Recht behalten. Und auch ich pflichte ihm bei. Meiner Meinung nach sollte Form immer Mittel zum Ausdruck sein. Ist sie es nicht, erstickt sie in ihrer Funktionalität ohne wiedererkennbaren Inhalt und zumeist auch ohne nachträgliche Wirkung. Dieser Variationszyklus vom Brahms ist damit sicher keine schlechte Musik. Aber er ist ein Werk der Musikgeschichte, das wie nur wenige Andere für das steht, was heute dem klassischen Konzertbetrieb große Probleme bereitet.
Daniel Janz, 27. Oktober 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Daniels Anti-Klassiker – 50: Ludwig van Beethoven – Sinfonie Nr. 5 (1808), klassik-begeistert.de