CD-Besprechung:
Gelungene Aufnahmen zwischen Weltenbrand und Weltverklärung
Gustav Mahler
Complete Symphonies Vol. 4
Sinfonien 8 und 9
Jenaer Philharmonie
Simon Gaudenz, musikalische Leitung
Odradek, ODRCD466
von Dirk Schauß
Man spricht bei Gustav Mahlers achter Sinfonie oft von der „Sinfonie der Tausend“ – ein Monumentalwerk, dessen bloße Aufführungsbedingungen an den Rand des Machbaren führen. Umso bemerkenswerter, wenn ein Klangkörper wie die Jenaer Philharmonie gemeinsam mit Chefdirigent Simon Gaudenz nicht nur die Herausforderung annimmt, sondern mit dieser Einspielung einen interpretatorischen Maßstab setzt, der ebenso von kluger Organisation wie von musikalischer Durchdringung geprägt ist.
In Kombination mit der Neunten, dieser letzten vollendeten Sinfonie Mahlers, entsteht ein Kontrastpaar aus weltumspannendem Klangrausch und introspektivem Verlöschen – dazwischen Andrea Lorenzo Scartazzinis schwebende Meditationen „Anima“ und „Enigma“, die wie ästhetische Resonanzräume zu Mahler wirken, sich aber zugleich dezent und uneitel in den Hintergrund fügen.
Schon der Auftakt der Achten wirkt wie ein Sog: Simon Gaudenz entscheidet sich für ein zügiges, gleichwohl organisch atmendes Tempo, das das „Veni Creator Spiritus“ mit einer Mischung aus Strahlkraft und Ernsthaftigkeit eröffnet. Es ist keine triumphierende Apotheose, sondern ein Ringen um Erleuchtung, das sich in fein ausgehörten Spannungsbögen artikuliert. Die Architektur bleibt immer nachvollziehbar, auch in den großen Steigerungen, die aus innerer Notwendigkeit hervorgehen, nie aus reinem Effekt.
Um die 400 Mitwirkende gestalten dieses symphonische Meisterwerk. Die Jenaer Philharmonie, für dieses Projekt um die Robert-Schumann-Philharmonie Chemnitz erweitert, klingt dabei homogen, zugleich wuchtig und durchhörbar – ein Verdienst nicht zuletzt der ausgezeichneten Abstimmung beider Orchestergruppen, aber auch der akustischen Klarheit, mit der der Tonmeister diesen überbordenden Klangapparat bestechend gut eingefangen hat. Die oft gefürchtete Gefahr, dass Klangmassen sich gegenseitig erdrücken, wird durch eine penibel austarierte Balance umgangen.
Der gewaltige Chorapparat – bestehend aus dem Opernchor der Theater Chemnitz, dem Philharmonischen Chor Jena, dem Jenaer Madrigalkreis, dem Monteverdichor Würzburg sowie dem ukrainischen Knaben- und Männerchor Lviv Dudaryk – agiert mit beeindruckender Textverständlichkeit und rhythmischer Präzision. Besonders die Knabenchöre bringen eine leuchtende Klangfarbe ein, die dem Werk an zentralen Stellen jene Mischung aus Kindlichkeit und Transzendenz verleiht, die Mahler vorschwebte. Die Chorgruppen fügen sich klanglich wie gestaffelte Ebenen in den Raum, ohne sich gegenseitig zu überdecken – ein Kunstgriff der Aufnahmetechnik, der diese Einspielung auch aus produktionstechnischer Sicht zu einem Glanzstück macht. Der Raum bleibt offen, atmend, dreidimensional – ein akustisches Wunder bei dieser Besetzung.
Der zweite Teil, Mahlers monumentale Vertonung der Faust-Schluss-Szene, ist nicht minder beeindruckend: Gaudenz entwickelt die weitgespannte Architektur mit dramaturgischem Gespür, ohne sich in Details zu verlieren. Die Übergänge sind natürlich, atmend, die Generalpausen sprechend gesetzt. Nichts wirkt fragmentiert oder gestückelt – im Gegenteil, der Spannungsbogen ist von geradezu epischer Weite. Besonders im Schlussabschnitt, dem „Alles Vergängliche“, gelingt ihm ein bewegender Klangrausch, der nicht pathetisch überhöht, sondern sich aus der musikalischen Logik heraus entfaltet – das ist gelungene Dirigierkunst von bestechender Stringenz und innerer Wahrhaftigkeit.
Die Solistenriege überzeugt durchweg: Elisabeth Dopheide und Julia Sophie Wagner führen den Sopranpart mit klarem, kultiviertem Ton, wobei Wagner besonders in ihren hohen Linien durch Lyrik und Ausdrucksintensität besticht. Akiho Tsujii und Marlen Bieber ergänzen das Klangbild mit einem leuchtenden Mezzo, während Evelyn Krahe den Altpart mit warmem Timbre und sicherer Tiefe ausstattet. Was in vielen Einspielungen der Schwachpunkt ist, erweist sich hier als ein großer Trumpf: der Tenor! Corby Welch gestaltet seinen horrend schweren Part mit strahlender Höhe und vorbildlichem Legato! Allein sein hinreißend dargebotenes Solo „Blicket auf“ lohnt diese Aufnahme. Welch phrasiert mit Sorgfalt, trifft den Tonfall zwischen Ekstase und kontemplativer Innigkeit genau – seine technische Stimmbeherrschung, seine überragende Musikalität und sein Erspüren feinster Textnuancen geraten mustergültig. Seine vorbildliche Textverständlichkeit ist ein besonderer Trumpf dieser Aufnahme!
Thomas Essl bringt als Bariton viel Charakter und Wortdeutlichkeit ein, während Martin-Jan Nijhof dem Basspart mit profundem Fundament Kontur verleiht. Keine Stimme dominiert – vielmehr entfaltet sich ein vokales Miteinander, das der polyphonen Anlage des Werks ideal entspricht. Diese vokale Gleichgewichtigkeit ist wohltuend – keine Opern-Eitelkeiten, sondern eine gemeinsame Deutung.
Nach der Klangfülle der Achten wirkt der Beginn der Neunten beinahe wie ein schüchternes Innehalten. Gaudenz wählt einen innigen, niemals sentimentalen Ton, der das rhythmische Pulsieren des Anfangs hörbar macht, ohne es zu überzeichnen. Der Fluss des ersten Satzes, dieser ständig gefährdete, nie ganz gesicherte Strom von Leben und Abschied, wird von der Jenaer Philharmonie mit bewundernswerter Sensibilität geformt. Die Streicher klingen weich, aber nicht wattiert, das Holz innig, das Blech dezent – eine Textur von feinster Transparenz. Es ist Musik im Zustand der Schwebe, durchzogen von Abschied und Vision zugleich.
Auch die beiden Mittelsätze, das Ländlerhafte und das Burleske, geraten keineswegs zum nur ironischen Intermezzo, sondern behalten jenen melancholischen Unterton, der Mahler so eigen ist. Besonders hervorzuheben ist die rhythmische Präzision, mit der die Jenaer Musiker diese Ecksätze artikulieren – da gibt es keine Auflösung in bloße Klangfläche, sondern stets eine pulsierende Präsenz. Bei der Burleske geht Simon Gaudenz mit seinen wackeren Musikern ins große spielerische Risiko und gewinnt damit auf ganzer Linie. Geradezu diabolisch mit viel Sturm und Drang wird dieser schwere Abschnitt virtuos dargeboten – pointiert, gefährlich, mitreißend.
Der Finalsatz schließlich, dieses erschütternd stille Adagio, ist bei Gaudenz in den besten Händen. Er vermeidet jede übermäßige Sentimentalisierung und legt stattdessen den Fokus auf Klangfarben und strukturelle Klarheit. Die berühmten Schlusstakte, dieses flirrende Verschwinden in der Höhe, geraten zu einem Akt des Loslassens, der tief bewegt – nie auftrumpfend, sondern voller innerer Demut. Die Musik zerfällt nicht – sie vergeht in Würde.
Andrea Lorenzo Scartazzinis „Anima“ und „Enigma“ treten als moderne Kommentare auf, nicht als Konkurrenten. „Anima“, Goethes „Geister über den Wassern“ folgend, spinnt Mahlers Faust-Bezüge weiter, während „Enigma“ sich bewusst an den Duktus der Neunten anlehnt – mit spätromantischer Harmonik, gedehnten Zeitverläufen und einer Verdunstung des Klangs. Gaudenz behandelt beide Werke als organische Erweiterungen des Mahler-Kosmos, was sie – trotz ihrer Eigenständigkeit – zu wichtigen Momenten des Zyklus werden lässt. Es ist klug, dass Scartazzinis Stücke keine gestische Attitüde entwickeln, sondern in einer kontemplativen Haltung verweilen – wie Schatten, die Mahler begleiten.
Diese vierte Folge der Jenaer Mahler-Edition unter Simon Gaudenz ist ein Meilenstein – nicht nur wegen des monumentalen Repertoires, sondern vor allem wegen der klugen und klar durchdachten Gestaltung. Gaudenz gelingt es, die Extreme der beiden Mahler-Sinfonien auszuleuchten, ohne in plakative Gegensätze zu verfallen. Die Jenaer Philharmonie spielt auf beachtlichem Niveau, verstärkt durch die Robert-Schumann-Philharmonie Chemnitz in der Achten, Chöre und Solisten agieren mit technischer Exzellenz und stilistischer Klarheit.
Hervorzuheben ist zudem die Klangqualität dieser Aufnahme: Bei aller Massivität bleibt der Raum stets durchhörbar, die Stimmen differenzierbar, die Dynamik authentisch eingefangen. Weder überproduziert noch zu nah mikrofoniert, erlaubt diese Produktion einen realistischen, packenden Höreindruck – so, als säße man mitten im Geschehen. Es ist eine aufwändige, aber nie effekthascherische Klangarbeit, die den Geist der Werke gut einfängt.
Diese Aufnahme ist nicht nur ein weiterer Baustein im Mahler-Kanon – sie ist ein sprechendes Zeugnis dafür, wie lebendig und gegenwärtig diese Musik auch heute noch ist. Simon Gaudenz und die Jenaer Philharmonie sind merklich an diesem riesigen Projekt der Gesamteinspielung gewachsen. Mit der vierten Folge ist sicherlich der zentrale Höhepunkt gesetzt. Keine Frage, diese Mahler-Einspielungen waren ein kühnes Wagnis, bei der überreichen großen und prominenten Konkurrenz. Und doch: Es war richtig, notwendig und mutig, dies zu tun. Großes zu wagen und über sich selbst hinauszuwachsen, ist in dieser Gesamteinspielung faszinierend zu erleben. Eine beeindruckende künstlerische Aussage – in ihrer Ernsthaftigkeit, Tiefe und gestalterischen Geschlossenheit von großer Relevanz.
Dirk Schauß, 21 Juni 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
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