CD-Besprechung:
Paavo Järvi / Haydn
Paavo Järvi
The Deutsche Kammerphilharmonie Bremen
Haydn
London Symphonies Nos.94 & 99 / 95 & 98
Sony Music 19802 86185 2
von Dr. Gerd Klingeberg
Für ihre Einspielung von Joseph Haydns Londoner Symphonien Nr. 101 und 103 wurden die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen und ihr Chefdirigent Paavo Järvi mit dem OpusKlassik-Preis als Orchester des Jahres 2024 geehrt. Jetzt haben sie auf einer Doppel-CD die Haydn-Symphonien Nr. 94, 95, 98 und 99 nachgelegt.
Ein bisschen zu viel Haydn? Keineswegs. Denn das, was die Kammerphilharmonie hier präsentiert, hat wenig zu tun mit einer fast schon sprichwörtlichen Papa-Haydn-Beschaulichkeit.
Bereits die Sinfonie Nr. 94 kann man quasi komplett runderneuert erleben. Das klangvolle Adagio cantabile startet noch zart, zurückhaltend. Aber die vermeintliche Muße währt nicht lange: Das Vivace imponiert mit unerwartet agilem Vortrag bei dynamischem Auf und Ab und sportlichen Tempi. Man spürt sofort: Jegliche Art von Gleichförmigkeit ist für die Kammerphilharmonie definitiv ein No-Go.
Ein „Paukendonner“ als Haydn-Gag
Das kommt im 2. Satz Andante noch deutlicher zum Ausdruck. Die Wiederholung des schlichten Dreiklang-Motivs zu Beginn erfolgt derart pianissimo, dass man drauf und dran ist, die Lautstärke des Verstärkers hochzuregeln. Das sollte man indes tunlichst bleiben lassen angesichts des folgenden krachenden Einschlags, dieses donnernden Orchester-Tuttis, dem die Sinfonie den nicht ganz korrekten Beinamen „mit dem Paukenschlag“ (international „The Surprise“) verdankt.
Der beschriebene humorige Effekt, ein typischer Haydn-Gag, zieht immer, selbst wenn man darauf gefasst sein sollte. Und irgendwie meint man beim Zuhören, das Schmunzeln der energisch aufspielenden Musiker wahrzunehmen. Ob just an diesem Punkt der Tonmeister auch noch etwas nachgeholfen hat? Eher nicht; denn wer die Kammerphilharmonie live erlebt hat, der weiß, dass das Ensemble dergleichen auch ohne technische Unterstützung zustande bringt.
Die folgenden Variationen gestaltet das Orchester ungemein farbopulent; das folgende Menuett, das Bilder eines unbeschwerten Volkstanz-Vergnügens heraufbeschwört, bildet einen wirkungsvollen Kontrast. Der knackig kurze, nur knapp 4 Minuten dauernde Finalsatz, ein Allegro molto, kommt gleichermaßen gefällig wie kernig; Laut-Leise-Elementen in fast schon Presto-Manier reihen sich aneinander in einem pointiert dargebotenen, geradezu atemlosen Vorbeihuschen.
Plastische Interpretationen
Ausgeprägte Kontraste, überraschende Wechsel in Dynamik und Tempo, dazu eine intensive Auslotung dynamischer Grenzen und mitunter straffe, niemals indes die spieltechnische Präzision beeinträchtigende Metren sind typische Herangehensweisen für lebendigen Interpretationen der Kammerphilharmonie: Da entsteht beim Hören der CD beinahe schon der optische Eindruck eines Live-Konzerts.
Dies gilt auch für die Sinfonie Nr. 99 mit ihrer gravitätisch-wuchtigen Einleitung. Deren expressive Ausführung kann das Orchester im Adagio-Folgesatz noch steigern, ohne ins allzu Sentimentale abzugleiten. Das Menuett wirkt hingegen in seiner Grundstimmung scherzo-haft, ist getupft locker und elegant, ein bildhaftes Gegenüber gut gelaunter Tanzpaare auf dem Parkett. Das ausnehmend forsch angegangene Finale überrascht mit ungewohnten, überaus strahlenden Klangfarben; dem glanzvollen Kehraus geht eine dynamisch nahezu komplett zurückgenommene Sequenz voraus, dann strebt der musikalische Ablauf mit neuer Energie und niemals nachlassender Vehemenz akzelerierend hin zum markigen Schlussakkord.
Die weniger bekannte Sinfonie Nr. 95 (auf CD 2) startet Aufmerksamkeit heischend energisch und drängend, gefolgt vom warmtönend ohrenschmeichelnden Andante cantabile, das indes mit stark kontrastierenden Einwürfen niemals nur so dahinplätschert. Einen Hauch von Verzweiflung meint man hingegen zu spüren beim düster eingefärbten Menuett; der Finalsatz ist ein zielstrebig angegangener Sturmlauf, dennoch bleiben im transparenten Spiel des Orchesters auch kleinste Figurationen nicht auf der Strecke.
Das bewegendste Adagio und ein finales Highlight
Nr. 98, die letzte auf CD 2, startet mit einem dichten Unisono-Motiv, stabil eingerammte Pfeiler, doch schnell wird die Darbietung zu einem mitunter fast schon swingenden Wechsel zwischen wuchtigen und leichtfüßig daherkommenden Partien.
Das folgende Adagio ist der wohl schönste, anrührendste Satz der Doppel-CD. Mit andächtigem Ernst und teils klagendem Unterton bei sehr verhaltenem Metrum vorgetragen, geht er tief unter die Haut, wird zum besonders klangvollen Höhepunkt der Gesamtaufnahme. Deutlich unbeschwerter, mit robust stampfender Ländler-Atmosphäre und tänzerischem Impetus, kontrastiert das Menuett; das Trio unterstreicht diesen dörflich-folkloristischen Charakter.
Wie aus der Ferne herüberklingend, lässt Järvi das Finale beginnen. Es ist der Auftakt zu einem rasanten Wechselspiel aus kurzen, effektvoll angegangenen Phrasen, unterbrochen durch ungewohnt lange, spannungsintensivierende Generalpausen. Das presto-straffe, von heftigen Eruptionen aufgelockerte Pulsieren, dazu die überraschenden, spielerisch unbeschwert erscheinenden Einlagen kurzer Soloviolin- und Cembalo-Episoden und der grandiose Schlusspart sind ein weiteres Highlight dieser Doppel-CD, die als abwechslungsreiche Entdeckungsreise in das sinfonische Haydn-Œuvre keinesfalls nur eingefleischten Haydn-Fans wärmstens empfohlen werden kann.
Dr. Gerd Klingeberg, 28. November 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Marko Letonja Dirigent, Die Bremer Philharmoniker Bremer Konzerthaus Die Glocke, 18. November 2024
Daniel Hope & AIR Ensemble Bremer Konzerthaus Die Glocke, 5. November 2024