CD-Besprechung:
Valentin Silvestrov
…flowering over Lethe…
Alexei Lubimov
Fuga Libera, FUG846
von Dirk Schauß
Manche Musik klingt, als sei sie aus Licht gemacht. Sie berührt nicht durch Lautstärke oder technische Brillanz, sondern durch das, was zwischen den Tönen liegt. Valentin Silvestrov, 1937 in Kiew geboren, ist ein Meister dieser leisen Kunst. Einst als enfant terrible der sowjetischen Avantgarde gehandelt, wandte er sich in den Siebzigern von der Härte experimenteller Systeme ab – und entdeckte stattdessen das Zarte, das Flüchtige, das Nachklingende. Seine Musik klingt, als wäre sie auf der Schwelle zwischen Erinnerung und Vergessen geschrieben.
Die knapp 80 Minuten Klaviermusik auf „…flowering over Lethe…“, erschienen bei Fuga Libera, sind eine Reise durch genau diese Welt. Der Titel? Viel mehr als ein poetischer Anklang. Der Lethe, Fluss des Vergessens in der griechischen Mythologie, ist hier nicht Bedrohung, sondern Voraussetzung: Erst im Vergessen beginnt das leise Blühen. Eine Musik, die sich nicht an die Zeit klammert – sondern sie loslässt.
Gespielt wird all das von Alexei Lubimov. Und wie er spielt, ist schlichtweg bemerkenswert. Lubimov, lange schon eine Institution für Entdeckungen abseits des pianistischen Mainstreams, ist kein Lautsprecher. Ihm liegt nichts an Virtuosengetöse. Er denkt, tastet, horcht. Was andere vielleicht als einfach oder minimal abtun würden, füllt er mit atmender Intelligenz und einer feinen, traumverlorenen Aufmerksamkeit. Man hört förmlich, wie die Töne aufsteigen und sich verlieren dürfen.
Die Auswahl der Stücke – übrigens von Lubimov selbst ausgewählt – liest sich wie eine Sammlung klingender Widmungen: „Nostalghia für Leonid Hrabovsky,“ „Moments of Memory für Alexander Knaifel“, die „Three Postludes für Arvo Pärt“. Sogar Franz Schubert und Mikhail Glinka sind dabei, nicht als Zitate, sondern als ferne Gesprächspartner. Und dazwischen? Bagatellen, Walzer, Hommagen – kurze Stücke, die sich nicht in den Vordergrund drängen, aber auch nie wirklich enden. Sie hängen wie leise Gedankenfäden in der Luft, und oft ist das, was nicht gespielt wird, fast ebenso bedeutend wie das Gespielte.
- Besonders berührend ist die Hommage à Henry Purcell. Ein kleines, meditatives Gebilde – aber mit so viel Wärme und Innerlichkeit gespielt, dass man fast vergisst, dass hier „nur“ ein Klavier klingt. Oder die „Three Waltzes with a Postlude“ – wie durch Milchglas getanzte Miniaturen, elegant, aber nie manieriert. In Lubimovs Händen werden sie zu kleinen Gedankenspaziergängen mit überraschenden Ausblicken.
Technisch ist die Aufnahme exzellent eingefangen: klar, weiträumig, ohne künstliche Nähe, aber auch nie distanziert. Der Flügel klingt warm, dabei transparent. Es ist, als säße man in einem hohen, hellen Raum – mit nur einem Fenster, durch das milchiges Licht fällt.
Was bleibt? Der Eindruck, etwas sehr Persönlichem beigewohnt zu haben. Es ist das Filigrane, das fortwährende Spiel der Farben, was diese Einspielung zu einer besonderen Hörerfahrung macht. Diese Musik spricht nicht die Massen an – sie flüstert dem Einzelnen zu. Silvestrov schreibt keine Stücke, er schreibt Stimmungen, Zustände. Und Lubimov antwortet nicht mit Interpretation im klassischen Sinn, sondern mit Gegenwärtigkeit. Nichts wird überformt, nichts betont – alles ist einfach da. Und wirkt lange nach.
Ein Album, das womöglich mehr mit Schweigen zu tun hat als mit Klang. Und genau deshalb so faszinierend und hörenswert ist.
Dirk Schauß, 2. August 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
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