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CD-Rezension:
Paavo Järvi und das hr-Sinfonieorchester spielen alle vier Sinfonien und das Intermezzo aus Notre Dame auf drei CDs ein. Ein lohnenswertes Projekt, und ein wichtiger Meilenstein in der Schmidt-Rezeption.
Franz Schmidt: Die Sinfonien
1. Sinfonie E-Dur
2. Sinfonie Es-Dur
3. Sinfonie A-Dur
4. Sinfonie C-Dur
Intermezzo aus der Oper »Notre Dame«
hr-Sinfonieorchester
Paavo Järvi, Dirigent
3 CDs
Deutsche Grammophon, DG 483 8336
von Brian Cooper, Bonn
Ganz selten hört man mal im Konzert Franz Schmidts 4. Sinfonie, wie jüngst in Köln, oder aber das Intermezzo aus seiner Oper Notre Dame.
Der Mann hat insgesamt vier Sinfonien geschrieben, wie Johannes Brahms, und ist ansonsten allenfalls noch durch sein Oratorium Das Buch mit sieben Siegeln bekannt. Seine Sinfonien werden so gut wie gar nicht aufgeführt, geschweige denn auf CD eingespielt. Da kommt Paavo Järvis Beitrag gemeinsam mit dem hr-Sinfonieorchester gerade recht und wird somit zu einem wichtigen Meilenstein in der Schmidt-Rezeption, zumal es eine gelungene Gesamtaufnahme ist, die bereits seit etwa drei Jahren auf dem Markt ist.
Und à propos Brahms: Aimez-vous Schmidt? klänge als Romantitel oder auch nur als Frage reichlich doof, da Schmidt solch ein Allerweltsname ist. Trotzdem finde ich seine Musik unbedingt hörenswert. Nichts gegen Beethovens Siebte, die ich am Tag, da ich das hier aufschreibe, schon wieder abends auf dem Programm habe. Die Programmplanerinnen und -planer der Konzerthäuser und Orchester könnten diesbezüglich gern etwas mehr Mut beweisen. Immerhin setzt man ab und an sein treues Abopublikum einer Sinfonie von Kurt Atterberg oder Hans Rott aus, oder Havergal Brian, oder Einojuhani Rautavaara (you know who?). Oder eben Franz Schmidt.
Vom ersten Akkord der ersten Sinfonie an, in feierlichem E-Dur, demonstriert das hr-Sinfonieorchester einen Schönklang, der bereits früh Lust auf den gesamten Schuber (es sind drei CDs) weckt. Der Klang ist unter Paavo Järvis souveräner Leitung gut ausbalanciert, und es gibt wunderbar schöne Soli etwa der Holzbläser im zweiten Satz der 1. Sinfonie, der von seligem Melodienreichtum durchsetzt ist. Auch die letzten beiden Sätze geraten fabelhaft, der Fugenteil des Finales wunderbar geisterhaft.
Die zweite Sinfonie wurde bereits vor zehn Jahren aufgenommen. Wie die Erste hat sie eine Spieldauer von etwa einer Dreiviertelstunde. Dem ausladenden Kopfsatz, der allein ein Drittel der Spieldauer des gesamten Werks einnimmt und dessen Wellenbewegungen bei manch einem womöglich die Assoziation einer bukolisch-hügeligen Blumenlandschaft wecken mögen, folgt ein Variationssatz, „Einfach und zart“, dessen kompositorischer Raffinesse das hr-Sinfonieorchester mehr als gerecht wird.
Der dritte Satz ist bereits der Finalsatz. „Langsam“ lautet die schlichte Tempoanweisung, was zunächst an Mahlers Dritte und Neunte gemahnt. Doch schätzte Schmidt Mahlers sinfonisches Schaffen angeblich nur bedingt, und irgendwelche auffälligen Ähnlichkeiten würde ich hier auch nicht krampfhaft erkennen wollen. Schmidt beginnt mit einer Fuge, die ich eher als mit Max Reger geistesverwandt ansehen würde. In jedem Fall wird dieser letzte Satz zwar gefühlvoll, niemals jedoch bedeutungsschwanger oder gar kitschig dargeboten. Ich bin sicher, viele Leute würden diese Musik sehr gern mal live erleben.
Zum Abschluss der zweiten CD gibt’s noch das oben erwähnte Intermezzo, das eher nicht „Sehr zurückhaltend“ gespielt wird, wie die Spielanweisung eigentlich vorgibt. Doch tut das dieser Darbietung überhaupt keinen Abbruch. Leidenschaftlich führt Järvi insbesondere die Streicher durch die Partitur, die hier weit weniger komplex ist als jene der auf derselben CD enthaltenen Es-Dur-Sinfonie.
Auch die dritte Sinfonie, in A-Dur, wünschte man sich häufiger live. Der Beginn: zum Dahinschmelzen! Es wogt im Kopfsatz nur so hin und her, nur vermeintlich ziellos, denn immer wieder gibt es Crescendi, die einem das wohlige Gefühl des Angekommenseins vermitteln. Der zweite Satz, ein Adagio, ist relativ kurz und hat in seiner dichten Atmosphäre viel vom melodischeren Prokofjew, wie ich finde. Es folgt ein achtminütiges Scherzo, das hier im ganzen Orchester beschwingt und hochvirtuos erklingt. Der Finalsatz beginnt langsam, mit wunderbaren Choralpassagen in Holz und Hörnern, bevor ein flotter Sechsachteltakt in a-Moll den Grundstein legt für die kurze A-Dur-Schlussapotheose.
Die vierte Sinfonie, die gemeinhin als seine stärkste gilt, komponierte Schmidt als spätromantisches sinfonisches Requiem für seine Tochter, die im Wochenbett bei der Geburt seiner Enkelin verstarb. „Ich weiß nicht, ob sie mein stärkstes Werk ist, aber das wahrste und innerlichste ist es auf jeden Fall“, schrieb Schmidt an den Dirigenten und Widmungsträger Oswald Kabasta, der 1933 die Uraufführung leitete.
In der vorliegenden Aufnahme ist es nur recht und billig, die herausragenden Solisten Balázs Nemes (Trompete), Ulrich Edelmann (Violine) und Peter-Philipp Staemmler (Cello) im Booklet namentlich hervorzuheben, denn alle drei tragen sie Wesentliches zur beeindruckenden Gesamtleistung des Orchesters bei. Die vier Sätze der Vierten gehen nahtlos ineinander über. Das eingangs gespielte Trompetensolo spielt Nemes souverän, und jegliches Zeitgefühl tritt angesichts der Ruhe in den Hintergrund, die hier vermittelt wird. Pulsierend setzen die Bässe ein, die Violinen übernehmen eine schmerzvolle Melodie, die an Nino Rotas Musik zu Der Pate gemahnt.
Es ist eine herrlich komplexe und dichte Trauermusik, die im Trauermarsch des zweiten Satzes fortgeführt wird. Staemmlers traumhaftes Cello-Solo überstrahlt den Satz. Das Scherzo ist hingegen eine überraschend tänzerische und leichtfüßige Fuge. Und der Finalsatz, den die Trompete vom Beginn der Sinfonie eindrucksvoll in Stille beendet, malt förmlich in dieser gelungenen Einspielung alle Schmerzen, die man angesichts des Verlusts eines nahestehenden Menschen empfinden kann.
Das hr-Sinfonieorchester wird auf dem Cover als Frankfurt Radio Symphony aufgeführt. Man gibt sich international, was in diesem Fall durchaus Sinn ergibt, da sich sonst englischsprachige Menschen über das „Human Resources Symphony“ wundern könnten. (Bei der Buchstabenfolge HR denken viele augenblicklich an die Businesswelt.)
Gesamtaufnahmen der Sinfonien Franz Schmidts findet man auf dem CD-Markt nur wenige. Bei jpc – derzeit 91 Einträge für Franz Schmidt, inklusive Noten – gibt es auf den ersten Blick neben dieser nur noch eine weitere von Jonathan Berman, die vor anderthalb Monaten erschien; und die bei Querstand erschienenen Luisi-CDs sind offenbar nur einzeln erhältlich. (Querstand ist übrigens das feine Edellabel, bei dem seinerzeit der sensationelle Brucknerwürfel mit Herbert Blomstedt und dem Gewandhausorchester erschien. Leider ist er in toto nur noch zu Mondpreisen erhältlich. Zum Brucknerjahr 2024 könnte man den doch getrost wieder nachpressen…)
Wer also abseits ausgetretener Pfade unbekanntere Sinfonik entdecken möchte, wird von diesem Schmidt-Schuber keinesfalls enttäuscht werden. Im Gegenteil.
Dr. Brian Cooper, 10. Januar 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Leonard Bernstein Complete Works, Deutsche Grammophon, 26CDS + 3 DVDS – Rezension
CD-Rezension: Yuja Wang Rachmaninoff klassik-begeistert.de, 9. Dezember 2023
CD-Rezension: Bruce Liu, Waves klassik-begeistert.de, 30. November 2023
Nachtrag zum kurzen Bruckner-Exkurs im vorletzten Absatz. In ähnlicher Aufmachung wie Blomstedts jüngster Beethoven-Zyklus erschien vor einem Jahr sein Bruckner-Zyklus bei Accentus. Es handelt sich dabei wohl um die Querstand-Aufnahmen in neuem… nun, Gewand.
Dazu auf der Heimatseite von Jeff Bezos ein Ausschnitt aus der ausführlichen Kundenrezension Alexander Hillers: „Von 2005 bis 2012 ließ der ehemalige Gewandhauskapellmeister für das kleine Altenburger Label querstand die Sinfonien 1 bis 9 mitschneiden. Doch im internationalen Plattenkatalog waren die Aufnahmen schwer zu beschaffen und die Box teuer und exklusiv. Viele internationale Brucknerfans hatten so kaum eine Chance, an die gesuchte Ware zu kommen und zahlten schließlich bei verschiedenen Plattformen fast jeden (Fantasie)Preis. Jetzt endlich hat das renommierte und vertrieblich sehr gut vernetzte und organisierte Musikunternehmen accentus die Box wiederveröffentlicht. Zwar nicht mehr im SACD-Standard wie bei Querstand dafür aber preiswert und mit einem neuen und frischen Booklet.“
Dr. Brian Cooper