Nicht nur für Verehrer Bernsteins ist diese Box als Beispiel für Musizieren auf höchstem Niveau eine empfehlenswerte Anschaffung!
Leonard Bernstein
5 Blu-ray Discs
c-major 762304
von Peter Sommeregger
Disc 1 Sibelius
Dem Werk von Jean Sibelius hatte sich Leonard Bernstein auch schon in früheren Jahren gewidmet, mit den New Yorker Philharmonikern sogar einen kompletten Zyklus aller Symphonien für die Schallplatte eingespielt. Zu jener Zeit war der finnische Komponist längst noch nicht so akzeptiert, als er es heute, aber auch schon Ende der 1980er Jahre war, in denen diese Aufnahmen entstanden. Bernstein hatte ein großes Faible für den stilistisch ein wenig aus der Zeit gefallenen Komponisten. Die Videos zeigen, mit welcher Hingabe er sich in diese Musik vertieft und es ihm gelingt, seine Begeisterung auch dem Publikum nahezubringen. Ursprünglich sollte in Wien ein kompletter Sibelius-Zyklus für Schallplatte und Video entstehen. Die ersten Symphonien wurden 1986 und 1987 eingespielt, 1988 und 1990 zwei weitere. Bernsteins unerwarteter Tod am 14. Oktober 1990 ließ das Projekt aber als Torso zurück, in ihrer leidenschaftlichen Hingabe an diese Musik sind die Aufnahmen ein wichtiges Dokument für Bernsteins Spätstil.
Zum ersten Mal erscheinen die Sibelius-Aufnahmen nun auch auf Blu-ray.
Disc 2 Beethoven Haydn
Auf dieser Scheibe ist eines der letzten Konzerte Bernsteins mit den Wiener Philharmonikern von 1989 zu sehen. Ungewöhnlich die Programmwahl, nämlich Beethovens spätes 16. Streichquartett in der Fassung für Streichorchester. Die Weltklasse-Streicher des Orchesters arbeiten die polyphone Struktur des Werkes wunderbar transparent heraus.
Das zweite Konzert ist eine Aufzeichnung aus der Basilika Ottobeuren, die mit ihrem barocken Gepränge, das eigentlich schon mehr dem Rokoko zuzurechnen ist, den idealen Rahmen für Haydns bewegte „Missa in tempore belli“ abgibt. Unterstützt von den Solisten Judith Blegen, Brigitte Fassbaender, Claes Ahnsjö und Hans Sotin musizieren Bernstein und Chor und Orchester des Bayerischen Rundfunks hingebungsvoll, stets den religiösen Gehalt dieser Messe im Blick.
Disc 3 Joseph Haydn
Bei den Konzerten mit den Wiener Philharmonikern im goldenen Saal des Wiener Musikvereins standen in den Jahren 1984 und 1985 drei späte Symphonien und die Sinfonia Concertante in B-Dur von Joseph Haydn auf dem Programm. Bernstein liebte diesen „Vater der Symphonie“ und sah in ihm zurecht den Wegbereiter der so genannten Wiener Klassik. Pointiert und inspiriert musiziert er mit den brillanten Philharmonikern. Das Finale der Symphonie Nr. 88 lässt er da capo spielen und dirigiert dabei nicht. Mit schelmischem Lächeln scheint er den Musikern zu sagen „Ihr könnt das doch auch alleine“.
Disc 4 Französische Meister
Hauptwerk auf dieser Disc ist Hector Berlioz’ stürmische Symphonie Fantastique. Dieses Werk revolutionierte 1830 nicht nur die französische Orchestermusik, es hatte darüber hinaus großen Einfluss auf deren Entwicklung europaweit. Die erstmalige Verwendung eines musikalischen Leitmotivs scheint Richard Wagner bei der Entwicklung seiner Leitmotivtechnik beeinflusst zu haben. Bernstein liefert mit dem Orchestre National de France bei einem Konzert im Pariser Théâtre des Champs-Élysées 1976 eine feurige Interpretation.
Bei einem weiteren Konzert am gleichen Ort im Jahr 1981 führt Bernstein neben kurzen pointierten Stücken von Camille Saint-Saёns und Ambroise Thomas die dritte Symphonie von Albert Roussel auf. Dieses Werk entstand einst im Auftrag von Serge Koussevitzky für das Boston Symphony Orchestra. Bernstein war Schüler von Koussevitzky, daher rührt seine Affinität zu dem originellen Werk.
Disc 5 Bernstein at 100
Die letzte Scheibe in der Box ist eine schöne Ergänzung, sie zeichnet das Konzert zu Bernsteins 100. Geburtstag im Jahr 2018 auf, zu dem sich viele einstige Weggefährten, Schüler und die nachdrängende nächste Generation in Tanglewood eingefunden hatten.
Das Programm war sehr sensibel und passend ausgewählt. Neben Werken aus Bernsteins Schaffen, vor allem aus dem Welterfolg „West Side Story“, erklang Musik von Gustav Mahler, zu der Bernstein ein sehr emotionales Verhältnis hatte. Das Finale der 2., der Auferstehungssymphonie wurde, vom Boston Symphonie Orchestra und dessen Chor unter Andris Nelsons hoch konzentriert aufgeführt, zum spirituellen Höhepunkt des Konzertes, in dem aber auch ein Stück von Bernsteins Lehrer Aaron Copland und eine neue Komposition von John Williams, vom Komponisten selbst dirigiert, erklangen.
Kurze Clips historischer Auftritte Bernsteins in Tanglewood und Kommentare der beteiligten Künstler runden die Aufzeichnung ab.
Diese Veröffentlichung bereits als Videos erschienener Mitschnitte von Konzerten Leonard Bernsteins erstmals auf Blu-ray sind eine willkommene Gelegenheit, sich wieder mit dem bedeutenden Dirigenten zu beschäftigen, der nun auch schon über 30 Jahre tot ist.
Wenn man den Vollblut-Künstler Bernstein noch selbst erlebt hat, frischt es die Erinnerung an viele Eigenheiten auf, so entkam beispielsweise kein von ihm geschätzter Solist Bernsteins Küssen, die aber immer Ausdruck einer echten Bewunderung und Herzlichkeit waren. Speziell mit den Wiener Philharmonikern verband Bernstein eine späte, aber umso tiefere Liebe, die erfreulich umfangreich dokumentiert ist. Bei der Restaurierung der teilweise schon über 40 Jahre alten Aufnahmen ist es gelungen, eine erstaunliche Bildqualität zu erzielen. Die Tonspur ist sogar auf durchaus aktuellem Stand. Man hat eigentlich nie das Gefühl, historisches Material vor sich zu haben.
Nicht nur für Verehrer Bernsteins ist diese Box als Beispiel für Musizieren auf höchstem Niveau eine empfehlenswerte Anschaffung!
Peter Sommeregger, 22. September 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
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