Das Philadelphia Orchestra hat Rachmaninow noch immer in seiner DNA

CD-Rezension: Rachmaninow 1. Sinfonie, Sinfonischen Tänze Op. 45, Yannick Nézet-Séguin und PO  klassik-begeistert.de, 19. November 2023

Eine gelungene und hörenswerte CD-Einspielung der ersten Sinfonie op. 13 und der sinfonischen Tänze op. 45 unter Yannick Nézet-Séguin.

Deutsche Grammophon, DG 483 9839

von Brian Cooper, Bonn

Wieder und wieder höre ich diese erste Sinfonie Sergei Rachmaninows, die ich noch vor ein paar Wochen als sperrig und nicht unbedingt hörerfreundlich bezeichnet hatte. Wie sagt man so schön: It’s growing on me. Sie gefällt mir also immer mehr. Was dieses op. 13 allerdings nicht gebrauchen kann ist ein Dirigent, der die Aufführung versemmelt. Oder gar die Uraufführung, die Alexander Glasunow so spektakulär versemmelt haben soll, da er sturzbetrunken dirigierte. Den Komponisten stürzte das, nebst einiger böser Verrisse, in eine tiefe Depression.

Anfang November kam das Baden-Badener Publikum in den Genuss, alle drei Sinfonien Rachmaninows an drei Tagen zu hören. Die erste erklang am zweiten Abend, und die ebenfalls auf dieser „bis unner de Deck“ mit Musik vollgepackten CD (Laufzeit 80:52) enthaltenen sinfonischen Tänze op. 45 am letzten Abend.

Auch in der Live-Aufnahme aus dem Kimmel Center vom Juni 2019 erklingt herrlichster Philadelphia Sound, der bestätigt, dass dieses grandiose Orchester noch heute nach wie vor Rachmaninow in der DNA hat. Chefdirigent Yannick Nézet-Séguin gelingt es, zarte und bombastische Stellen in diesem Jugendwerk schlüssig miteinander zu verweben. Jugendliches Ungestüm dominiert hier zwar noch, die großen Bögen werden noch nicht ganz gespannt wie in späteren Werken, etwa der Zweiten, aber auch die erste Sinfonie dürfte gern häufiger im Konzertsaal erklingen.

Es fasziniert, dass Rachmaninow bereits hier, also in jungen Jahren, mit dem Motiv des Dies irae spielt, das ihn offenbar sehr fasziniert hat. Seien es manchmal auch nur drei oder vier Töne: Es schimmert immer wieder durch, so etwa im fast gänzlich unruhigen Scherzo des zweiten Satzes oder ab kurz vor Minute vier des langsamen Satzes. Dieser verebbt ganz wundervoll im pianissimo possibile, bevor der letzte Satz – ein schöner Kontrast! – mit Fanfaren und einer Hymne beginnt, übrigens eine der ganz wenigen Stellen mit Ohrwurmcharakter in diesem Werk. Der letzte Satz ist schon am ehesten purer Rachmaninow, tatsächlich auch bereits mit Anklängen an Scriabin.

Im op. 13, wie auch in den sinfonischen Tänzen, die diese Platte abschließen, erklingen wunderbar warme Streicher, sattes Blech und phänomenale Holzblasinstrumente. Die Tänze sind schlicht eine Wucht. Und Nézet-Séguin nimmt sehr wörtlich, dass es Tänze sind. Es handelt sich ebenfalls um eine Live-Aufnahme aus Philadelphia, in diesem Fall vom September 2018. Dichter und süffiger Klang ist schon im ersten Tanz zu hören, zugleich ist alles äußerst klar aufgenommen und transparent gespielt. Der Mittelteil wird von den Holzbläsern (Saxophon!) und schier unfassbar schön aufspielenden Streichern gestaltet, bevor es tänzerisch und wild endet.

Mit Schönklang gesegnet, vor allem im Holz, in den Violinen und in den Bratschen, ist auch der mittlere Tanz, ein Walzer. Es ist auch in diesem langsameren Tempo spürbar, wie der Dirigent das Tänzerische herausarbeitet. „Arbeiten“ ist nicht ganz das richtige Wort, denn entspanntes Zurücklehnen ist vielmehr angebracht. Man höre und genieße, wie das Ganze atmet, und wie an genau den richtigen Stellen gezögert wird, bevor man wieder in den Walzermodus schaltet.

Das Todesnahe, das Düstere der ersten Sinfonie, erscheint wieder im letzten Satz. Mit krachenden Akkorden, Glockenschlägen, schroffen Phrasen und ständiger Unruhe dräut Ungemach. Aber wir hören auch viel Zartes (im Mittelteil) und viel Spielerisches, es ist ein Tanz wie das Leben, vielleicht gar ein Tanz um das Leben. Hier wird in Gänze das Dies irae zitiert, verfremdet, spielerisch dekonstruiert, vor allem in den Bratschen ab Minute 2:30. Zum ersten Mal höre ich auf dem Weg zur Reprise Anklänge an Saint-Saëns’ Danse macabre.

Ein so spektakulärer Ritt kann nur mit einem ausklingenden Gongschlag enden. Uneingeschränkte Empfehlung.

Dr. Brian Cooper, 19. November 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

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