Dmitri Tcherniakov holt Wagners Ring ins 21. Jahrhundert

CD-Rezension: Richard Wagner Der Ring des Nibelungen, Berliner Staatsoper 2022  klassik-begeistert.de, 20. Juli 2024

Im Vorfeld des 150-jährigen Jubiläums der Uraufführung muss man Tcherniakovs Arbeit als großen Wurf, wenn auch nicht unbedingt als wegweisend betrachten. Die durchaus kontroverse Aufnahme der Inszenierung ist wohl vor Allem dem Prinzip der Banalisierung von Wagners Tableaus geschuldet. Bei näherer Betrachtung überführt Tcherniakov aber das Pathos Wagners in eine neue, zeitgemäße Bildersprache.

CD-Besprechung:

Richard Wagner
Der Ring des Nibelungen

Berliner Staatsoper 2022

UNITEL

von Peter Sommeregger

Nur knapp eineinhalb Jahre nach ihrer Premiere im Oktober 2022 erscheint nun diese kontrovers aufgenommene Produktion von Wagners „Ring des Nibelungen“ auf DVD und Blu-ray.

Das ermöglicht eine intensive Nachbetrachtung von Tcherniakovs Regie und bildlicher Gestaltung des Mammutwerkes. Nach zweimaligem Live-Erlebnis in der Berliner Staatsoper verfestigt nun die Aufzeichnung endgültig den positiven Eindruck, wobei man von lieb gewonnenen Sehgewohnheiten Abschied nehmen muss.

Tcherniakov bedient sich einer gänzlich neuen Ästhetik, auf die man sich erst einmal einlassen muss. Radikal kürzt er das im Werk vorhandene Pathos gnadenlos auf banale Alltagsästhetik herunter. Verortet wird die Handlung in den Räumen eines nicht näher definierten Forschungsinstitutes, dessen Name mit E.S.C.H.E. eine überdeutliche Anspielung auf die Weltesche enthält. Ziel der Forschungen dürfte die Analyse der Psyche der handelnden Personen sein, erst nach und nach kristallisiert sich heraus, dass Wotan selbst der Kopf hinter der flächendeckenden Überwachung und Manipulation ist.

Geschickt platziert Tcherniakov symbolträchtige Bilder, wie eine bräunliche Marmorwand im Rheingold, die Insider schnell als der Berliner Humboldt-Universität nachempfunden identifizieren, wobei der dort verwendete Marmor aus der Reichskanzlei Adolf Hitlers stammt. In den ersten Durchläufen der Inszenierung waren im Rheingold und der Walküre noch Käfige mit lebenden Kaninchen als Versuchstiere zu sehen. Das löste verständliche Proteste von Tierschützern aus, in den Aufführungen von 2024 blieben diese Käfige leer.

Das Bühnenbild des ersten Aktes der Walküre erinnert ein wenig an Lars van Triers Setting für seinen Film „Dogville“. Kurz vor dem Fallen des Vorhanges wird schließlich klar, dass Wotan die Begegnung von Siegmund und Sieglinde mittels einer nur nach einer Seite transparente Glasscheibe beobachtet und lenkt. Alles Geschehen läuft unter strenger Aufsicht des Göttervaters ab, der sich damit endgültig als Kontrollfreak entpuppt.

 

Wenn Siegmund und Sieglinde am Ende des ersten Aktes aus Hundings transparenter Hütte fliehen, bleiben sie trotzdem Gefangene des Forschungsinstitutes und treffen in dessen Gängen auch auf die Käfige mit Versuchskaninchen.

Im zweiten und dritten Akt zeigt Tcherniakov seine Stärke bei der Personenführung. Die zumeist als langweilig empfundene Szene Frickas und Wotans wird bei ihm zum Kammerspiel, lebendig und aussagekräftig im Spiel und Mimik der Protagonisten.

Noch stärker arbeitet er die Dialoge Wotans und Brünnhildes im zweiten und dritten Akt heraus. Man kennt diese Passagen als auf das Rampensingen reduzierte Aktionen. Hier gelingt eine selten erlebte Dichte in der Auseinandersetzung des zürnenden Gottes mit der ungehorsamen Tochter. Tcherniakov erweist sich hier als Meister der Reduktion, es gibt keinen Speer, kein Feuer, dafür erleben wir zwei tief verletzte Menschen.

Wenn Brünnhilde weinend ihren Kopf in den Schoß Wotans legt, ist das mehr, als jede pathetische Geste ausdrücken kann. Als am Ende Wotan mit dem Bühnenbild im Hintergrund der Bühne verschwindet, bleibt Brünnhilde noch für Sekunden vor einem schwarzen Zwischenvorhang sichtbar. Deutlicher kann man Verlorenheit und Vereinzelung nicht abbilden.

Zu Beginn des „Siegfried“ wird ein kurzes, verstörendes Video gezeigt, in dem ein verängstigtes Kind Türme aus überdimensionalen Legosteinen baut, die schließlich einstürzen. Ein deutlicher Hinweis auf Siegfrieds traumatische Kindheit, die er mit dem tückischen Zwerg Mime erleidet. Mimes Behausung lässt sich leicht als Hundings einstige Hütte identifizieren. Als Siegfried und Mime am Ende des ersten Aktes aufbrechen, zertrümmert Siegfried zuvor noch Spielzeug und Mobiliar seiner Kindheit als Akt endgültiger Befreiung.

Im zweiten Akt treffen vor Neidhöhle der gealterte Alberich und Wotan aufeinander. Als Szenerie dient wieder das inzwischen fast völlig verlassene Forschungsinstitut. Ausgestattet mit Gehhilfen wandern Wotan und Alberich durch die labyrinthischen Gänge. Die Kontrahenten bewegen sich mühselig durch die leeren Räume, unterstützt von der Drehbühne entsteht ein simpler, aber eindringlicher Effekt, der dieser sonst oft als langweilig empfundene Szene innere Spannung verleiht.

Der Waldvogel wird in Gestalt einer attraktiven Arzthelferin, der Drache Fafner als Zwangsjacken-Patient eingeführt.

In der Schlussszene findet Siegfried schließlich Brünnhilde im Schlaflabor. In der nüchternen Atmosphäre des verglasten Raumes wird erneut Tcherniakovs Konzept der Banalisierung von Wagners Pathos deutlich. Gegen Ende wechselt das Paar in den Lichthof des Institutes, wo die Weltesche noch in sattem Grün vorhanden ist. Als sich die Beiden endgültig finden, werden sie von dem inzwischen weißhaarigen Wotan und den vergreisten drei Nornen von einer Rampe aus beobachtet.

Gleich im Vorspiel der Götterdämmerung begegnen wir erneut den drei Nornen, die ein Kammerspiel geriatrischer Mobilitätsprobleme bieten. Wieder befinden wir uns in Hundings ehemaliger Hütte, die zwischenzeitlich auch als Heimstatt von Mime und Siegfried diente.

Im ersten Akt erleben wir das einstige Forschungsinstitut in leicht veränderter Optik. Das Geschlecht der Gibichungen hat die Räume übernommen und die Ausstattung stilistisch verändert. Das permanent beschwipste Geschwisterpaar Gunther und Gutrune in Gesellschaft ihres Halbbruders Hagen, der mit einem markanten Feuermal im Gesicht aus Außenseiter gebrandmarkt ist, rücken nun ins Zentrum der Handlung.

Die Täuschung Brünnhildes durch Siegfried in der Gestalt Gunthers wird optisch ausgespart, Siegfried verstellt lediglich seine Stimme. Beim Schwurduett im zweiten Akt zückt der Chor der Gibichungen seine Handys, dies ein Tribut an die Gegenwartskultur.

Im dritten Akt befinden wir uns wieder im Stresslabor, in dem sich Siegfried und Brünnhilde einst begegneten. Die Rheintöchter sind medizinisch-technische Assistentinnen. Hagens Jagdgesellschaft besteht aus einer Baseballmanschaft, auf deren Dress E.S.C.H.E. als Logo prangt. Als Spielfeld dient der Lichthof des Instituts, an der Stelle der längst gefällten Weltesche ist nur noch eine Markierung im Boden zu sehen.

Als Mordwaffe Hagens dient eine Fahnenstange der Mannschaft, der tödlich verletzte Siegfried schleppt sich noch ins Stresslabor, wo er stirbt. Zu den Klängen des Trauermarsches füllt sich langsam der verglaste kleine Raum, unter den hereinströmenden Menschen befinden sich auch die Nornen, Erda und schließlich der gebrechlich gewordene Wotan. Dieser steht später auch stumm hinter Brünnhilde, als diese ihren Schlussgesang anstimmt.

Das Schlusstableau zeigt schließlich eine zum Aufbruch gerüstete Brünnhilde, die noch ihrer Mutter Erda mit dem Waldvogel auf der Hand begegnet. Im Bühnenhintergrund kann man einen Text eingeblendet sehen, den Wagner ursprünglich ans Ende des Textbuches gesetzt hatte. Mit einer Handbewegung wischt Brünnhilde das Logo der Firma E.S.C.H.E. vom Vorhang, es zerfällt zu Staub.

Das Gelingen dieses gewaltigen Projektes ist dem gesamten Team geschuldet. Eine bis in die kleinsten Rollen ausgewogene Besetzung auf höchstem Niveau war ebenso die Mutter des Triumphs, als auch die fulminant aufspielende Staatskapelle Berlin unter Christian Thielemann, der damit einmal mehr seinen Rang als Wagner-Dirigent bewies. Der Fairness halber muss man aber auch erwähnen, dass der Dirigent Thomas Guggeis den Hauptteil der Einstudierung übernommen hatte. Inzwischen hat Guggeis Berlin verlassen, und ist auf dem Weg zu einer eigenständigen, verdienten Karriere.

Dmitri Tcherniakov © Wiener Staatsoper

Die zentralen Sänger dieses Ringes waren Michael Volle als sonorer, aber auch gebrochener Göttervater, dem seine Macht entgleitet. Andreas Schager singt einen Siegfried, dem schier unerschöpfliches Material zur Verfügung steht, mit dem er auch klug umzugehen weiß. Die Palme gebührt aber eigentlich Anja Kampe, die das gesamte Spektrum der Partie der Brünnhilde vom Schlachtruf bis zur glücklich Liebenden und schließlich zur tief getroffenen Rächerin mit ihrem großen, an Klangfarben reichem Sopran zur zentralen Figur macht.

Diese Ring-Inszenierung Tcherniakovs ist bereits historisch, weil sie den Wechsel des GMD an der Spitze der Berliner Staatsoper Unter den Linden mit befördert hat. Der altgediente Daniel Barenboim wollte seine Jahrzehnte dauernde Präsenz an dem Haus mit der insgesamt dritten Ring-Produktion krönen. Damit hatte er aber seinen 2022 desolaten Gesundheitszustand überschätzt, schon bei Beginn der Proben verließen ihn seine Kräfte. Durch sein schnelles Einspringen positionierte sich Christian Thielemann, der gerade „durch Zufall frei“ war, nachhaltig und praktisch unschlagbar als Nachfolger für Barenboim. Ob die Entscheidung der Lokalpolitik für ihn eine weise war, wird die Zukunft zeigen.

Auch als Regiearbeit im Kontext konkurrierender Ring-Produktionen sticht Tcherniakovs Arbeit durch ihre Stringenz und prägnante Handschrift hervor. Hatte Wieland Wagner in den 1950er und 60er Jahren die Wagner-Bühne in Bayreuth und darüber hinaus revolutioniert, und Patrice Chéreau im so genannten Jahrhundert-Ring von 1976 das Tor zu unorthodoxen Lesarten des monumentalen Werkes aufgestoßen, so drohten seither minder begabte Dilettanten die Tetralogie als beliebige Verfügungsmasse für krude Deutungen zu missbrauchen.

Im Vorfeld des 150-jährigen Jubiläums der Uraufführung muss man Tcherniakovs Arbeit als großen Wurf, wenn auch nicht unbedingt als wegweisend betrachten. Die durchaus kontroverse Aufnahme der Inszenierung ist wohl vor Allem dem Prinzip der Banalisierung von Wagners Tableaus geschuldet. Bei näherer Betrachtung überführt Tcherniakov aber das Pathos Wagners in eine neue, zeitgemäße Bildersprache.

Seine Personenregie stellt wahrhaftige Charaktere auf die Bühne, die in ihren Interaktionen bedeutend glaubwürdiger sind, als in konventionellen Inszenierungen. Tcherniakov hat eine Deutung des opus magnum Wagners geschaffen, die auf der Höhe der Zeit ist, ohne sich dem Zeitgeist anzubiedern.

Peter Sommeregger, 20. Juli 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Blu-ray-Rezension: Richard Wagner, Die Meistersinger von Nürnberg klassik-begeistert.de, 19. November 2023

Blu-ray-Rezension: Richard Wagner, Götterdämmerung, Valentin Schwarz, Regie 8. September 2023

Blue-ray-Rezension: Richard Wagner, Der Ring des Nibelungen klassik-begeistert.de, 13. Dezember 2022

Ein Gedanke zu „CD-Rezension: Richard Wagner Der Ring des Nibelungen, Berliner Staatsoper 2022
klassik-begeistert.de, 20. Juli 2024“

  1. Leider überzeugt der Versuch der Rettung von Tcherniakovs Ring-Inszenierung nicht. Tatsächlich hat dieser das Thema, das nichts mit Banalisierung des Pathos zu tun, des Ring-Werkes verfehlt. In der Schule hieß dies: setzen, sechs. Und das hat nichts damit zu tun, dass man nicht auf liebgewonnene Perspektiven verzichten möchte. Wohl will man aber auf Interpretationen von Regisseuren verzichten, die uns eine willkürliche, weil nicht im Werk immanente, Sicht aufzwingen wollen. Thema von Richard Wagners Ring ist die Antagonie von Liebe und Macht. Ein Thema, dass keine gewollte Aktualisierung braucht. Schon gar nicht eine Brünnhilde, die nach getaner Arbeit in den Feierabend geht (Letztes Bild Götterdämmerung).
    Einzig und allein die Sänger und das Orchester verdienen einen Kauf dieser DVD. Das Bild kann man ja wegschalten.
    Nebenbei ist diese Tcherniakov-Regie die einzige, die er verhaut hat. Andere Produktionen (Zarenbraut, Holländer in Bayreuth, Tristan in der Staatsoper, um nur einige zu nennen) sind großartig. Aber der Ring war eine Nummer zu groß für ihn.
    Lang lebe Herheims Ring! Aus der Schule von Götz Friedrich kommend erleben wir, wie die von der Macht verursachte Flucht auch die Liebe zerstört.

    Martin Bösinger

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