Ein Streifzug durch eine Handvoll CDs aus der bei BR Klassik erschienenen Jansons-Edition.
Richard Strauss (1864-1949):
Vier symphonische Zwischenspiele aus Intermezzo, op. 72
Don Juan, op. 20
Ein Heldenleben, op. 40
Also sprach Zarathustra, op. 30
Burleske, WoO, AV 85 (mit Daniil Trifonov, Klavier)
Eine Alpensinfonie, op.64
Tod und Verklärung, op. 24
„Rosenkavalier-Suite“, AV 145
Till Eulenspiegels lustige Streiche, op. 28 (plus Proben-CD)
Vier letzte Lieder, WoO, AV 150 (mit Anja Harteros, Sopran)
Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks
Mariss Jansons, Dirigent
von Brian Cooper, Bonn
Es ist kaum zu glauben: Schon in wenigen Monaten jährt sich der Todestag des großen lettischen Dirigenten Mariss Jansons (1943-2019) zum dritten Mal. Jenes Mannes also, der sich so sehr in den Dienst der Musik stellte, dass er nur Vorbild für jüngere Musikergenerationen sein konnte. Nur vielleicht nicht gerade hinsichtlich des Schonens der eigenen Gesundheit.
Für uns, die wir mehrmals jährlich zu seinen Konzerten pilgerten, ist es ein kleiner Trost, dass BR Klassik im vergangenen Jahr posthum eine sensationelle Jansons-Edition im Schallplattenformat – also mehr fürs Bücher- denn fürs CD-Regal – herausgebracht hat, die so ziemlich alles enthält, was Jansons mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks (BRSO) für das hauseigene Label eingespielt hat, darunter auch bis dato Unveröffentlichtes. Unter den 70 Scheiben sind auch mehrere SACDs, zwei DVDs sowie drei CDs mit Ausschnitten aus Proben (Mariss Jansons – The Edition, BR Klassik 900 200).
Und in eben diesen Proben hat Mariss Jansons Bilder gefunden, die seine Musik so lebendig machen. Machen, nicht „machten“. Denn seine Musik lebt in den vielen Aufnahmen und Erinnerungen weiter.
In der Probe zu Till Eulenspiegel – „Darf ich Sie bitten… Hier, hier, hier! (…) Ja, das ist gut! (…) Ja, wunderbar! Bravissimo!“ – fallen Till-Beschreibungen wie schlau, liebenswürdig, interessanter Kerl, Grimasse, sehr frech: Jansons erzählt Bilder, er spricht von „Geschichten erzählen“, und genau das ist es, was uns zu Menschen macht.
Wir Menschen leben nämlich auch von Geschichten, als Geistesnahrung und für die Herzensbildung – egal, wie (bauern)schlau oder doof, wie spiegeläulig oder hinterwäldlerisch wir sind. Sonst stumpfen wir ab. Dazu muss man nicht Richard Kearneys exzellentes Buch On Stories gelesen haben.
Und viele dieser Geschichten überdauern die Lebenszeit ihrer Erzählerinnen und Erzähler. So auch im Falle des BRSO unter Mariss Jansons. Das Mahler – oder war es doch Jean Jaurès? – zugeschriebene Zitat, Tradition bedeute, nicht die Asche anzubeten, sondern das Feuer weiterzugeben, trifft eins zu eins auch auf Jansons zu.
Meine persönlichen Jansons-Erweckungserlebnisse waren Mitte der Nullerjahre eine Sechste und eine Erste Mahler mit dem Concertgebouworkest in Köln bzw. Berlin, die mich förmlich umgehauen haben, und Jansons war ein grandioser, ein genialer Mahlerdirigent, aber er war eben auch viel mehr als das. Man denke nur an seinen Beethoven, seinen Brahms, seinen Bruckner, seinen Haydn (ja!), seinen Schostakowitsch und, ja, auch seinen Strauss. Auch außerhalb der Strauss’schen Programmmusik war er als Dirigent ein begnadeter Geschichtenerzähler.
Auch auf dem Amsterdamer Podium („op de bok“, wie man dort so schön sagt) konnte man ihn in so vielen unvergesslichen Mahler- und Bruckner-Abenden erleben. Es gab mal eine Neunte von Bruckner in Amsterdam, Sonntagsmatinee, danach konnte man nicht aufstehen, so schwer waren die Beine. Wie ich nach Amsterdam Centraal zum ICE nach Köln kam, weiß ich nicht mehr. Wahrscheinlich mit der Straßenbahn. Hinterher das Ganze nochmal in der Pariser Salle Pleyel erlebt, mit der Vierten und der Siebten desselben Komponisten, an drei aufeinanderfolgenden Abenden.
Kurzum, Jansons’ Zeit als Chef in Amsterdam war eine Ära. Und auch in München, wo er von 2003 bis zu seinem Tod Chefdirigent war, verwendet man zu Recht gern dieses Wort. Er hat sogar seinen Posten in Amsterdam aufgegeben, angeblich um sich mit voller Kraft für einen neuen Saal in München einzusetzen. Dass ihm posthum aufs Grab gepinkelt wird, ist ein anderes Thema, und zwar ein trauriges.
Es gab 2010 – lang, lang ist’s her – eine Umfrage der englischen Fachzeitschrift Gramophone, und so wenig man von Rankings aller Arten halten mag (ich bin kein Fan von Wettbewerben), so erfreut war ich, dass die ersten vier Orchester in exakt meiner persönlichen Reihenfolge gekürt wurden: Concertgebouworkest, Berliner, Wiener, LSO… Und auch das BRSO war in meinen Top Ten, wie in besagter Musikkritiker-Umfrage. Bemerkenswert ist, dass Mariss Jansons damals Chef gleich zweier Weltklasse-Orchester war, die im Ranking unter die ersten zehn kamen.
Es gibt zwei wunderbare Sonnenaufgänge in der Musik. Einmal der Sonnenaufgang in der Alpensinfonie (ein deutscher Sonnenaufgang), und dann der in Ravels Daphnis und Chloé (ein französischer Sonnenaufgang). Das ist drei-Uhr-morgens-Musik, die man mit guten Freunden in lauen Sommernächten nach zwei Flaschen Wein hören kann, wenn draußen die Sonne aufgeht; es sind diese sinnlichen Momente, die man, übrigens auch nüchtern, für immer im Gedächtnis hält. Umso besser, wenn man die richtigen Aufnahmen bereithält. Und die richtigen Freunde hat, mit denen man so etwas machen kann.
Wo ist eigentlich Ravel in der Edition? Es gibt eine schöne Aufnahme der Rapsodie espagnole auf CD 25. Aber Daphnis und Chloé? Und was ist mit Bartók, dem Komponisten, dessen Konzert für Orchester in Jansons’ Abschiedskonzert 2011 in Amsterdam eine gewichtige Rolle spielte? Beide letztgenannte Stücke sind bei Sony erschienen, zusammen mit Bartóks Mandarin – eine umwerfende Platte, die ich im September 2007 nach irgendeinem versemmelten Vorstellungsgespräch in irgendeinem Ministerium als Trost gekauft hatte, in einem bräsigen Berliner Kulturkaufhaus, das ich seither nicht mehr frequentiere, die Gründe nenne ich auf Nachfrage gerne.
Jansons’ grandiose Aufnahme der Alpensinfonie, der sinnliche Hörner-Sex im Rosenkavalier, die Burleske mit dem wunderbaren Daniil Trifonov, der Till und die anderen sinfonischen Dichtungen, und nicht zuletzt die Vier letzten Lieder mit Anja Harteros – all dies findet sich in der tollen Edition, und alles ist Pflichtprogramm für Strauss-Fans. Höchste Qualität, tolle Live-Aufnahmen, das BRSO in großartiger Verfassung, inspirierendes Musizieren.
Ich durfte die letzte Tournee noch erleben. Als hätte ich eine Eingebung gehabt, habe ich wie wild Karten gekauft: Elbphilharmonie, 29. Oktober 2019, Schostakowitsch 10., dann dasselbe Stück nochmal zwei Tage später in der Pariser Philharmonie. Und dann in Köln am 1.11. die Vierte von Brahms und in der ersten Hälfte eben wieder Strauss: die vier sinfonischen Zwischenspiele aus Intermezzo op. 72 und die Vier letzten Lieder mit Diana Damrau. Das Konzert am 5.11. in Essen sagte Jansons schon ab.
Er reiste aber noch ein letztes Mal nach New York, wo er in seinem letzten Konzert in der Carnegie Hall die Vierte von Brahms dirigierte. Und eben Strauss, op. 72. Der große Strauss-Dirigent Mariss Jansons lebt in seinen wunderbaren Aufnahmen weiter.
Dr. Brian Cooper, 15. August 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Einfach fantastisch, Mariss Jansons !
Jürgen Kröner