Emanuel Melchior Photo Early Music Productions
CD-Besprechung:
„Ja, ist denn schon Weihnachten?“, möchte mancher angesichts des Cover-Photos auf der neuen Schallplatte von Emanuel Melchior fragen. Tatsächlich handelt es sich bei dem Baum um eine Fichte in Nordschweden und die abgebildeten Noten sind eine in die Zweige gestellte Originalpartitur, gedruckt vom Leipziger Verleger C. F. Peters aus der Zeit kurz nach 1814 – es ist eine Titelauflage des Erstdruckes von 1802. Nichts montiert, alles echt und ohne KI.
Emanuel Melchior plays Bach, Agrell, Webern
Johann Sebastian Bach: 6 Präludien; Goldberg-Variationen BWV 988 (Auszüge)
Anton Webern: Kinderstück
Johan Joachim Agrell: Allegro aus Klaviersonate Nr. 4
Schallplatte erschienen 2025 bei Early Music Productions LLC.
Cover mit Werkinformationen. Die PET-Platte ist erhältlich über www.goldbergvariations.com, jpc, HHV und Amazon.
von Dr. Andreas Ströbl
Der Pianist Emanuel Melchior kombiniert in seiner neuen Einspielung bekannte und weniger populäre Stücke von Johann Sebastian Bach, Anton Webern und Johan Joachim Agrell. Und ja, es ist eine echte schwarze Schallplatte, die aber nicht aus dem früher üblichen Polyvinylchlorid, sondern aus rezyklierbarem Polyethylenterephthalat (PET) als Basismaterial besteht. Die Firma Sonopress stellt seit dem vergangenen Jahr die sogenannte Eco-Record her, bei deren Produktion weder Erdgas noch Wasserdampf benötigt werden. Da die schwarzen Scheiben aus dem 20. Jahrhundert ja wieder „im Kommen“ sind, stellt diese Herstellungsweise eine umweltverträgliche und nachhaltige Alternative dar.
Eine berückende Variationsbreite im Spiel
Melchior präsentiert als Erstes und zugleich als Kernstücke die auf dem Cover vorgestellten „Six Préludes“ von Bach, und seine Interpretation steckt auch für Kenner der kleinen Werke voller Überraschungen. Selten hat man die sechs Präludien in solcher Varianz im Tempo und in der Klangfarbe gehört. Der forsch anpackende, ja mitreißende Duktus des ersten Präludiums wird aufs Reizvollste kontrastiert mit dem zweiten, das wohl niemand zuvor mit soviel meditativer Ruhe eingespielt hat. Wer sich nun gemächlich zurückgelehnt hat, wird durch den quirligen Schwung des Folgestücks erfrischt. Das ist ein echtes Hör-Wechselbad, wie mit Wasserkübeln kalt übergossen nach einer finnischen Sauna.
Mit anmutiger Gemessenheit schreitet Melchior weiter, um dann wieder auf ein junges Pferd mit rasch-fröhlichem Galopp zu springen. Sakraler Ernst beschließt dann diesen ersten Teil der Kompilation.
Melchior selbst würdigt jedes einzelne dieser Stücke als „Meisterwerk und Juwel der Musikgeschichte“ und sieht sich im Dienst, die „Schönheit, Ausgewogenheit, Raffinesse und Genialität“ der Six Préludes zu würdigen. Das gelingt ihm bravourös.
Eine Sonate des Schweden und Zeitgenossen Bachs, Johan Joachim Agrell, schmiegt sich in verwandtschaftlicher Nähe an den großen Bruder aus Eisenach. Das kurze Stück ist geprägt von einer reizvollen Melange aus kirchenton-artiger Gemessenheit und Eleganz; die protestantische Strenge wird hier sanft aufgebrochen durch ein Bekenntnis zu unproblematischer Gebrauchsmusik. Der als sehr schüchtern beschriebene Agrell wäre mit dieser bescheidenen, aber wirkungsvollen Würdigung sicher einverstanden gewesen.
Ein Kinderstück und alte Bekannte
Ebenso kurz, wie als erstes dodekaphonisches Werk ein echter Mini-Meilenstein im Schaffen Anton Weberns ist das „Kinderstück“ von 1924. Ist es nun für Kinder gedacht oder kommt es kindlich daher? Tatsächlich trifft beides zu, denn Melchior empfiehlt das nicht einmal einminütige Stück für Anfänger auf dem Klavier. Andererseits erinnert der sprunghafte Duktus ein bisschen an ein spielendes Kind, das sich, nicht ganz ausgeglichen, ungeduldig hin und her bewegt. Melchior setzt mit diesem Besucher aus der musikalischen Moderne einen spannungserzeugenden Gegenpol zur barocken Tonsetzungskunst.
Beschlossen wird die Sammlung durch die Nummern 1 bis 15 aus Bachs Goldberg-Variationen. Kennern des Pianisten sind die bereits bekannt, denn er hat im vergangenen Jahr sämtliche Variationen, ergänzt durch zwei Stücke aus der „Kunst der Fuge“, vorgestellt (KB berichtete: https://klassik-begeistert.de/cd-rezension-emanuel-melchior-bachs-goldberg-variationen-klassik-begeistert-de-22-dezember-2024/). Sie eigen sich in jedem Falle hervorragend, um den Rahmen der vorliegenden Einspielung harmonisch zu vollenden.
Emanuel Melchior geht es ganz grundsätzlich darum, sich der Schönheit der Musik, die Bach ja auch als Mittel zur „Recreation des Gemüts“ begriff, zu öffnen. Zudem versteht er die Stücke, ob nun barock oder modern, als Fenster zum Begreifen kompositorischen Raffinements und künstlerischen Einfallsreichtums. Darin liegt ein unaufdringlicher, aber klar ausgesprochener didaktischer Ansatz für Ausführende, wie hörende Rezipienten dieser Musik.
Zur nordschwedischen Fichte: Die und der romantische See im Hintergrund des Cover-Photos befinden sich in der Nähe des Rückzugsortes Melchiors, fernab jeglicher lärmenden Zivilisation. Dort übt er und entwickelt seine Interpretationen.
Und was die Weihnachts-Assoziation angeht, so eignet sich das Album ganz wunderbar als Geschenk für das auch dieses Jahr wieder überraschend am 24. Dezember stattfindende Christfest, sowohl optisch als auch inhaltlich. Bach geht immer und erst recht zu Weihnachten. Dass es eine „echte“ Schallplatte ist, wird Liebhaber der alten Technik ebenso erfreuen, wie die Neuentdecker des Traditionsmediums. Also – rechtzeitig bestellen!
Dr. Andreas Ströbl, 6. Oktober 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at