Foto © La Comète
Kulturzentrum La Comète von Hésingue, 23. September 2023
Cendrillon
Ballet recyclable
Philippe Lafeuille, Choreographie
von Sandra Grohmann
Kennen Sie Häsiga? Nein? Vielleicht unter dem Namen Hésingue? Na, macht ja nichts. Hésingue kennt Sie ja auch nicht. Aber ich habe es heute kennengelernt, immerhin. Und das war auch gut so! Denn der Choreograph Philippe Lafeuille (https://www.philippelafeuille.com/accueil/) kommt sehr selten nach Deutschland. Also habe ich beschlossen, ihn in Frankreich zu besuchen.
Aber da mich kürzlich die Chaoswochen von Paris, ich gebe es zu, davon abgehalten haben, seine Création „Tutu“ live anzusehen, die ich nur ausschnittsweise aus Videosequenzen kenne, musste ich in die Provinz fahren. Von Freiburg aus, wo ich ohnehin war, ist es nur ein Sprung nach Basel ist es nur ein Sprung nach – na? Genau. Häsiga. Also Hésingue, wie es jetzt auf Französisch heißt, aber man mag mir nachsehen, dass der Name Häsiga es mir sehr angetan hat. Ganz zauberhaft – man hört förmlich, wie die gute Fee die Häsiga aus dem Hut hervorzieht, und dazu noch den Kürbiga und die Mäusiga, welche sich allesamt in eine königliche Kutsche samt livrierten Dienern verwandeln und somit unmittelbar zum Thema des Abends führen: Cendrillon.
Lafeuille wäre nicht Lafeuille, wenn er das klassische Märchen – wie es von Charles Perrault ursprünglich aufgeschrieben worden ist: das vergessen wir in Deutschland immer, wenn wir die Brüder Grimm für die Ur-Sammler halten – aber gleichgültig: wenn er das klassische Märchen nicht ganz ernst nähme und zugleich gegen den Strich bürstete. Inhaltlich und technisch. Es ist das, was mich für seine Arbeit einnimmt: Er liebt die Prinzessinnen, aber er nimmt die Chose zugleich aufs Korn. Zum Beispiel mit dem Solo des Prinzen, der zuallerst mal den eigenen Bizeps küsst (rechts, links), bevor er so richtig loslegt: Und wie er dann loslegt! Ebenso wie alle anderen. Die ausschließlich aus Männern bestehende Compagnie kann einfach tanzen.
Sie sind nicht die allersynchronste Truppe der Welt, ok, aber sie beherrschen ihre Kunst. Die fünf, die heute auf der Bühne standen, können Eleganz, sie können Parodie, sie können Sprünge und sogar Spitzentanz, sie haben erkennbar eine gründliche klassische Ausbildung erfahren. Würden sie das nicht mitbringen, könnten sie keinen virtuosen Walzer auf den Tanzboden werfen, dann gelänge die Parodie nicht zugleich mit der Poesie.
Doch beides gelingt, und das Publikum im großen Saal des Kulturzentrums La Comète von Hésingue geht voll mit. Die kleinen Mäuse (vermutlich eine oder zwei Schulklassen), die vor der Vorstellung das Foyer noch mit – sagen wir es mal wohlwollend – munterem Geplapper gefüllt hatte, war etwas über eine Stunde lang ganz und gar gebannt und mucksmäuschenstill. Bekanntlich sind Kinder ja die ehrlichsten und gnadenlosesten Kritiker. So gesehen müsste ich mich eigentlich mit gar keinen Details mehr abmühen, sondern könnte mich auf den Bericht von dieser Stille beschränken. Den Erwachsenen ging es nicht anders. Obwohl oder gerade weil sich Lafeuille die Freiheit nimmt, das Märchen stark einzukürzen und trotzdem die einzelnen Szenen in aller Ruhe auszuerzählen, nimmt er sein Publikum mit.
Grundsätzlich einleuchtend ist auch die Ausstattungsidee, die Geschichte von der Metamorphose des Aschenputtels auf der Metaebene durch Bühne und Kostüme zu erzählen. Die bestanden nämlich fast ausschließlich aus upgecycelten Plastikprodukten. So wenigstens die Vorankündigung. Es gehe hier einmal nicht, hieß es, um Greenwashing. Nun ja. Die Mülltüten waren natürlich frisch und die Butterbrotbeutel auch. Mag sein, immerhin die Wasserflaschen waren gebraucht. Dennoch blieb vor allem der Eindruck, dass Plastik ein toller Werkstoff ist (und wäre der Umweltaspekt nicht, könnte man das so stehen lassen) – einer, mit dem sich noch in der Schlussszene poetische Bilder schaffen lassen, wo die zarten Brotbeutelchen, die hier symbolhaft für den kleinen Schuh stehen, im Aufwind von sechs Ventilatoren tanzen. Praktisches Recycling konnte ich darin allerdings nicht erkennen. Müsste ja auch nicht sein, wenn es bloß nicht so angekündigt worden wäre. Als Spaßbremse erweist sich der Wille zum Recycling hier jedenfalls nicht.
Beeindruckend sind die Grandezza der Kostüme, soweit überhaupt vorhanden, und der Witz der Umwidmung von Gegenständen. Was man aus Müllbeuteln machen kann. Und was man aus leeren Wasserflaschen so alles machen kann. Zum Beispiel Häschenohren (Häsiga-Ohren? – ich werde albern), die nach vorne übers Gesicht geklappt plötzlich als Fernglas dienen. Überdimensionierte Champagnergläser. Und eine Kutsche, die wirklich rollt. Vor allem aber einen märchenhaften Mantel, mit dem die vermeintliche Prinzessin auf dem Ball erscheint und auf dem Cendrillon und der Herr Prinz stehen, als sie sich endlich finden.
Eine Art riesiges, aber sehr leichtes Eisbärenfell aus einer Unzahl auf einen Umhang genähten (geklebten?) Plastikstreifen. Was für einen Auftritt der ermöglicht. Ebenso elegant wie ironisch die Masken mit dem wiederum aus Plastikflaschen bestehenden Kopfschmuck. Ansonsten tanzen die Männer, außer in schwarzen Müllbeuteln, bedauerlicherweise überwiegend in einer Art Feinripp-Unterwäsche, für die sie gleich in der ersten Szene (wir sind in Frankreich) anzügliche Pfiffe ernten.
Kommen wir zum einzigen wirklichen Manko des Abends. Die Musikauswahl war schwierig. Natürlich liegt es zunächst einmal nahe, den Abend auf Prokofjevs Vertonung des Märchens aufzubauen. Es ist auch überhaupt nichts dagegen zu sagen, das zu verfremden – etwa durch Unterbrechungen und Geräusche – und mit anderen Stücken zu kombinieren. Aber warum, um Gottes willen, tritt die böse Stiefmutter mit Bachs Toccata für Orgel d-moll auf? Dem kann nur ein gravierendes musikalisches Missverständnis zugrunde liegen. Man hätte meinethalben Anleihen bei Tschaikowskys Dornröschen nehmen können oder der Dame eine Arie von Otellos Jago untergeschoben oder weiß der Teufel was – aber doch nicht Bach!
Glücklicherweise ein nur kurzer Ausrutscher. War dann gleich wieder vorbei. Gefolgt wurde dieser Ausflug indes von einem anderen, nicht minder fragwürdigen. Nämlich davon, dass die bösen Stiefschwestern zu einem mutmaßlich traditionellen Lied tanzen durften, dessen Ursprung ich im mittel- bis südafrikanischen Raum vermute (ohne mich da besonders auszukennen). Vielleicht irre ich mich. Jedenfalls war es ein sehr schönes Lied, von dem ich nicht ein Wort verstand. Mir schien dies etwas upassend.
Die Blödheit und Gemeinheit der beiden durch einen langen schwarzen Plastikzopf verbundenen Biester war rasant und amüsant choreographiert – aber wieso dazu so ein schönes Lied? Das dazu noch ohne musikalischen Kontext daherkam, sondern so einsam und allein auf die Bühne kam wie es auch wieder ging: Ausgerechnet da, wo die zwei Stiefschwestern gegen Aschenputtel immer zusammenhalten. Das schien mir nicht ganz zu Ende gedacht. Vielleicht habe ich etwas übersehen oder überhört, auch den Text habe ich wie gesagt nicht verstanden. Auf mich wirkte es, bei aller Toleranz, zumindest ohne diese Detailkenntnisse ein wenig zu eklektizistisch.
Zurück zum Visuellen. Ich habe die gute Fee noch nicht vorgestellt. Dabei kam hier ein neues Element zum Einsatz, und zwar ein Einrad. Ich hätte darauf auch gern verzichten können. Schließlich hatte ich mich auf einen Tanzabend gefreut. Für die Einrad-Nummern hätte ich in den Zirkus gehen können. Aber zugegeben, der Künstler hat seine Sache bestens gemacht. Und er hat Cendrillons Schleppe zurechtgezupft, was ich sehr nett von ihm fand. Ich vermute, die Mehrheit im Publikum war vom Einrad auch sehr angetan, die Kinder eingeschlossen. Mit weiterer Kritik daran halte ich mich also zurück und reihe mich damit ein in den zustimmenden Applaus des (einmal muss es noch sein:) Häsiga’er Publikums, das sich nach der Vorstellung ganz überwiegend von den Sitzen erhoben hatte.
So sieht wahre Begeisterung aus. Begeisterung für eine originelle, aussagekräftige und hochpoetische Choreographie.
Sandra Grohmann, 24. September 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Musikfest Berlin, Kirill Petrenko und Christian Gerhaher Philharmonie Berlin, 14. September 2023
Ambroise Thomas, Hamlet Komische Oper Berlin, 16. April 2023 Premiere