Foto: © Bayerische Schlösserverwaltung, München
Residenzwoche München vom 7. bis 16. Oktober 2022
ERÖFFNUNGSKONZERT
Claudio Monteverdi – Marienvesper
Kaisersaal, Residenz München, 7. Oktober 2022
von Willi Patzelt
Die 20. Münchner Residenzwoche ist eröffnet! Und wie könnte man eine Festwoche voller prächtiger Renaissance- und Barockmusik besser eröffnen als mit Claudio Monteverdis Marienvesper? Das Meisterwerk von 1610 stellt einen ganz zentralen Schlüsselpunkt der Entwicklung von der sakralen Renaissancemusik hin zum Barock dar. Spätere solche Schlüsselwerke musikalischer Entwicklung sind auch außerhalb der Klassikkenner-Szene bekannt: Man denke Beethovens „Neunte“, Wagners „Tristan“ oder auch Strawinskys „Sacre“. Die Marienvesper ist leider lange nicht so bekannt, wie sie es verdienen würde. Ist sie doch schließlich eines der innovativsten, vielseitigsten und auch musikalisch hinreißendsten Werke der Musikgeschichte.
Unter der Leitung von Stefan Steinemann, Domkapellmeister in Augsburg, musizierten „seine“ Augsburger Domsingknaben mit dem auf Musik des 16. Und 17. Jahrhunderts spezialisierten Ensembles „I Fedeli“ Monteverdis Meisterwerk im Kaisersaal der Münchner Residenz. Zweifellos ein toller Aufführungsort ob seiner prächtigen Ausstattung. Akustisch jedoch verträgt der Saal kaum Lautstärke. So wirken laute Stellen viel zu oft dröhnend, ja teilweise wirklich unangenehm laut. Man hätte sich vieles dynamisch zurückgenommen gewünscht.
Die Interpretation überzeugte insgesamt auch nur bedingt. Denn ob es wirklich dem Werk zuträglich ist, alles in einem wirklich zähen, ja extrem langsamen Tempo zu spielen, ist fraglich. So sehr schnelle Tempi oftmals zum Zirkushaften neigen, so sehr wirkt manch langsames Tempo unnatürlich. Steinemann schlägt so gut wie alles auf möglichst kleine Zählzeiten, die von ihm stets durch auftaktig lautes, wirklich nerviges Schnaufen durch die Nase „eingezählt“ werden. Insgesamt hört man zwar viele Details, die sonst im musikalischen Rausch untergehen, es fehlt aber vielfach der große musikalische Bogen. Wenn es heißt „Omnes hanc ergo sequamur“ („Dann lasst uns ihr [Maria] alle folgen“) wirkt die Musik, dirigiert auf Viertel statt halbtaktig, eher nach einem zögerlichen, nicht überzeugtem Überlegen, ob man ihr denn wirklich folgen wolle – anstatt nach Freude, ja nach Aufbruch hin zu ihr, zur Gottesmutter. Und doch gibt es immer wieder Stellen, in denen auf das herrlichste musiziert fast schon angewandte Theologie betrieben wird. Bei „Et hi tres unum sunt“ (Und diese drei [Vater, Wort (Sohn) und Heiliger Geist] sind eins) als größtes und tiefstes Geheimnis christlichen Glaubens bleibt im Tempo, wie in sonstigen Bewegungen, alles stehen: Man hat das Gefühl, es wird aus dem Allertiefsten heraus musiziert. Ein Gefühl, die Musiker sprächen einem direkt ins Herz.
Die Augsburger Domsingknaben meistern dieses anspruchsvolle Werk wirklich bravourös. Obschon man hin und wieder einige Unsicherheiten – vor allem im Knabenchor – hört, kann man den Jungs und jungen Männern nur ein großes Kompliment machen. Mit den Tenor-Solisten Andrés Montilla-Acurero und Christian Volkmann sowie Jan Kuhar und Wiard Witholt im Bass ist auch die Solistenriege sehr ansprechend besetzt. In den hohen Stimmen wird sie erweitert von Choristen aus dem Knabenchor. Sie, vor allem zwei davon, deren Namen das Programmheft leider nicht preisgibt, sind ein absolutes Highlight der Aufführung. Mit ihren jungen, hellen Stimmen meistern sie die Koloraturen auf das Beste, ja singen in einer bezauberten Unschuld, die wirklich fast schon entrückend ist.
So gelingt ein Abend, der zum einen mit ca. 1,50h sehr lang ist (zum Vergleich: Bei Herreweghe ca. 1,30h mit den hier leider, leider fehlenden gregorianischen Antiphonen) und interpretatorisch nicht vollends überzeugt, aber dennoch voller Herz und Hingabe musiziert ist. Von Monteverdi selbst stammt der Satz: „Der moderne Komponist schreibt seine Werke, indem er sie auf Wahrheit aufbaut.“ Ja diese Musik ist wirklich für ihre Zeit hochmodern und sollte deshalb noch mehr Beachtung finden und ja: Aus dieser Musik spricht eine tiefe Wahrheit. Und diese kam bei der Eröffnung der 20. Residenzwoche über – das ist, was zählt!
Willi Patzelt, 9. Oktober 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Giuseppe Verdi, La Traviata Semperoper Dresden, 2. Oktober 2022 Premiere
Die Zauberflöte Wolfgang Amadeus Mozart Semperoper Dresden, ab 29. Oktober 2022
Herr Patzelt bedauert, dass auf der Herreweghe-Aufnahme der „Marienvesper“ im Gegensatz zum besprochenen Konzert die gregorianischen Antiphonen fehlen.
Ohne auf die in der Welt der Musikwissenschaft seit ca. 50 Jahren diskutierten Frage, ob nicht die „Concerti“ in der Marienvesper diese Antiphonen ersetzen, einzugehen, sei nur auf die Funktion einer Antiphon hingewiesen. Die Antiphon, der Leitvers, stellt den nachfolgenden Psalm in den jeweiligen kirchenjahreszeitlichen Zusammenhang. Dieser ist für eine liturgische Aufführung unerlässlich, für ein Konzert jedoch unsinnig, weil es eben kein Gottesdienst ist. Komischerweise wird die Frage nach den ach so schön transzendierenden gregorianischen Antiphonen meist nur für die Monteverdi Vesper gestellt. Oder hat schon mal jemand ein Konzert mit einer der beiden Mozart Vesperae und eingefügten Antiphonen gehört oder deren Fehlen bedauert?
Prof. Karl Rathgeber
Sehr geehrter Herr Prof. Rathgeber,
sehr freue ich mich über Ihre Reaktion! Vielleicht sollten bei der Frage der Antiphonen zwei Aspekte unterschieden werden: Der musikwissenschaftliche Sinn und der ästhetische Geschmack. Was den musikwissenschaftlichen Sinn betrifft, und seine Strittigkeit in der Forschung, haben Sie natürlich vollständig Recht (wer bin ich, Sie in dieser Frage verbessern zu wollen).
Die Antiphonen haben aber gerade bei der Marienvesper – zumindest für mich persönlich, und wohl auch viele andere – den ästhetischen Wert gleichsam als monophone Ruhepunkte zwischen den meist polyphonen Sätzen. Für mich persönlich stellen sie einen reinen Boden da, aus der heraus dann Monteverdis Musik „blüht“ (Verzeihen Sie bitte das etwas kitschige Bild).
Die Antiphonen rahmen die Psalmen (bzw. das Magnificat) ein, und zwar nicht in einer Wirkung, wie das die Concerti tun, da diese ja (cf-)freie Kompositionen sind. Insofern mögen die Concerti funktional die Antiphonen ersetzen. Den ästhetischen Wunsch nach herausgehobener Andersartigkeit der Antiphone (so ja auch im üblichen katholischen Gebrauch der gesungenen Antiphon als Kontrast zum gesprochenen Psalm) ersetzen die Concerti jedoch nicht.
Sie werden sicherlich aus diesem Argument meine Präferenz für die Antiphonen bei Monteverdi, wenn Sie sie auch nicht teilen mögen, nachvollziehen können, und ebenso, warum ich im Bezug auf Mozarts Vesprae nicht so argumentieren würde. Bei der Marienvesper halte ich die Antiphonen für einen Gewinn bei einer Aufführung. Dass der „korrekte“ liturgische Ablauf einer Vesper in einem Konzert, nur weil es kein Gottesdienst ist, „unsinnig“ sei, teile eben nicht. Nötig, wie in der Kirche, sind die Antiphonen natürlich nicht. Aber nur weil etwas nicht nötig ist, ist es ja nicht „unsinnig“.
Erneut vielen Dank!
Mit besten Grüßen
Willi Patzelt
Hallo Herr Patzelt,
ich kann Ihren persönlichen Wunsch nach den Antiphonen nachvollziehen. Nur sind persönliche Wünsche kein Interpretationsansatz. In Zeiten der historisch informierten Aufführungspraxis sind sie ein Widerspruch in sich, weil ja gerade keine persönlich gefärbte Ästhetik in der Interpretation ein Rolle spielen soll.
Prof. Karl Rathgeber
Sehr geehrter Herr Prof. Rathgeber,
nun möchte ich Ihnen doch entschieden widersprechen. Wenn das Konzept „historische Aufführungspraxis“ schon eine Interpretation als solche darstellen soll, wäre sie wenig wert. Sie wäre dann nur noch zu technisierter „Kunst“ nütze. Die Folge wird sein – um ein eigentlich politisches Argument zu entlehnen: Je reiner die Lehre, desto kleiner der Kreis ihrer Anhänger. Interpretation hat vielmehr immer etwas mit persönlicher Vorliebe zu tun, die sich allerdings natürlich in einem gewissen Rahmen abzuspielen hat.
Ferner finde ich es seltsam, dass Sie Ihre Meinung, die mir aus einer ästhetischen Ablehnung zu speisen scheint (Sie schrieben etwas verächtlich von den „ach so schön transzendierenden gregorianischen Antiphonen“) eine Geltung als einzig vertretbare Position beizumessen scheinen, als wäre die Wissenschaft vollständig einig darüber, dass die Marienvesper ohne Antiphonen gesungen wurde (bzw. die Concerti diese ersetzen würden). Und dem ist nun wirklich mitnichten so.
(Diese Kritik an der Geltung, die sie Ihrer Meinung beimessen funktioniert auch analog über ihre Ausführungen zur Liturgie im Konzertsaal – Stichwort „unsinnig“) .
Ich glaube, eine gewisse Toleranz gegenüber anderen vertretbaren Auffassungen (die nun nicht vollständig aus der Luft gegriffen und damit vollständig abwegig sind) wäre eindeutig angebracht. Und wenn meine persönlich Meinung vielleicht noch keine Legitimation für einen Interpretationsansatz darstellen darf – die von Philippe Herreweghe, der die Antiphonen einfügt, tut das doch sicherlich. Oder taugt seine Interpretation auch nicht für „richtige“ historische Aufführungspraxis?
Mit freundlichen Grüßen
Willi Patzelt
Herr Patzelt, zur Erläuterung:
1. „unsinnig“ heißt ohne Sinn. Den Sinn einer Antiphon hatte ich erläutert.
2. Historische Aufführungspraxis (Harnoncourt: gibt es nicht), besser historisch informierte Aufführungspraxis meint das Wissen um die Entstehungszeit, das Umfeld und die Bedingungen unter denen eine Komposition entstand. Die sogn. Marienvesper entstand für die Hofkapelle der Gonzagas in Mantua, unterlag also keinem liturgischen Zwang.
Ansonsten empfehle ich; https://musiconn.qucosa.de/api/qucosa%3A37312/attachment/ATT-0/
Beste Grüße
Prof. Karl Rathgeber