Neue Traviata in Dresden: Nina Minasyan verzaubert das Publikum

Giuseppe Verdi, La Traviata  Semperoper Dresden, 2. Oktober 2022  Premiere

Štěpánka Pučálková, Tänzer und Tänzerinnen © Semperoper Dresden/Ludwig Olah

La Traviata
Giuseppe Verdi

Melodramma in drei Akten
Libretto von Francesco Maria Piave

 

Sächsischer Staatsopernchor Dresden
Sächsische Staatskapelle Dresden
Leonardo Sini   Dirigent

Barbora Horáková Joly   Inszenierung
Eva-Maria van Acker   Bühnenbild

Semperoper Dresden, 2. Oktober 2022 PREMIERE


von Willi Patzelt

La Traviata, Verdis statistisch gesehen erfolgreichste Oper, ist ein Meilenstein der Musikgeschichte. Viele Generationen haben ergriffen in Opernhäusern auf der ganzen Welt mitgelitten, haben in dieser herrlichen Musik geschwelgt. Die Traviata ist die „vom Wege Abgekommene“. Was aber bringt diese Frau vom Weg ab, macht sie also zur Traviata? „Nur“ die Verhältnisse und das Schicksal? Irgendwo kratzt diese Oper schon am Tor zum Verismo – und ist dennoch eine zeitlose Geschichte. In der neuen Inszenierung von Barbora Horáková Joly an der Dresdner Semperoper zeigt sie eine Traviata losgelöst von Zeitumständen, ja relevant für unser Leben. Und so sieht man eine Traviata aus sehr weiblicher Sicht – durchaus diskussionswürdig, aber sehr gelungen.

Die an Tuberkulose unheilbar erkrankte Kurtisane Violetta lebt ein berauschendes Leben im Pariser Nachtleben und ist doch außerhalb jener Welt ganz allein. Die Bühne ist ein Cabaret, nachempfunden dem legendären Pariser Moulin Rouge. Die großen Festszenen, so das berühmte „Libiamo ne’ lieti calici“ im ersten Akt strotzen vor großer Feierlaune, ja vor überschwänglich, orgiastischem Leben – die Männer tragen Frack, es knallen die Champagnerkorken, Angehörige des horizontalen Gewerbes beschäftigen sich mit Teilen der fracktragenden Gesellschaft. Die ganze Stimmung macht Laune, und das soll sie auch. Insofern wirklich großartig: Eine echte berauschende Feier. In der Vorgängerinszenierung an der Semperoper bekam man vor einer roten Wand nur seltsame Leute zu sehen, die aussahen wie prollige Assis aus den Nuller-Jahren.

Nina Minasyan, Patrick Vogel, Sänger und Sängerinnen des Sächsischen Staatsopernchores Dresden, Tänzer und Tänzerinnen, © Semperoper Dresden/Ludwig Olah

Und doch ist einer immer omnipräsent: Der Tod. Bereits vor der Öffnung des Vorhangs bekam man, auf denselbigen projiziert, ein barockes Stillleben zu sehen: Memento mori – bedenke, dass du sterben musst. Die unheilbare Krankheit der Violetta schwingt auch in diesem berauschenden Leben stets mit. Dieser Gedanke wird dem Zuschauer nun förmlich eingeprügelt. Ständig sieht man Totenmasken und sonstige Todessymbolik. Der kleinwüchsige Conférencier ist gleichzeitig auch der Tod und überall anwesend. Diese ganze Idee vom omnipräsenten Tod ist wirklich richtig gut, vielleicht aber etwas „überumgesetzt“. Das Cabaret stellt insofern nur eine Kulisse fern vom „wahren“, da inneren Leben dar. So sieht man in den fröhlichen Cabaretszenen Kostüme im Stil der 1930er Jahre, doch insgesamt spielt die Handlung im hier und jetzt.

Nina Minasyan © Semperoper Dresden/Ludwig Olah

Insgesamt greift Horáková Jolys Inszenierung tief in die Symbolkiste. Über die projizierten Stillleben krabbeln Maden, aus denen Schmetterlinge und dann wieder Maden werden. Während des letzten Aktes bekommt man auf einer runden Leinwand über sicherlich zehn Minuten einen Zungenkuss in Zeitlupe zu sehen, bevor man dann vorgeführt bekommt, wie eine liegende Frau minutenlang begrapscht wird. Die Inszenierung bietet gewiss viel interpretatorische Tiefe; die Videoszenen am Ende jedoch nerven und lenken von der Musik ab. Unter vielem Applaus waren wohl auch deshalb einzelne Buhrufe für das Regieteam zu hören. Den Gesprächen der Leute um mich herum beim Herausgehen nach zu urteilen, resultierten diese wohl aus gerade jenem Zusammentreffen aus etwas überdrehter Gestaltungslaune der Videokünstlerin und deutscher Piefigkeit.

Abgelenkt haben dergleichen wirklich von der Musik. Die aber war himmlisch an diesem Abend. Der junge Italiener Leonardo Sini gab ein überzeugendes Hausdebüt am Pult der Staatskapelle Dresden. Liparit Avetisyan ist mit einen nie röhrend heldigen, sondern vielmehr lyrischen, und doch nie stimmlich dünnen, Alfredo Germont ein absolutes Erlebnis. Vater Giorgio Germont, gesungen von Alexey Markov, wirkt optisch vielleicht etwas jung, ist aber gesanglich mit seinem kernigen Bariton umso überzeugender. Das Highlight des Abends jedoch: Nina Minasyan als Violetta Valéry. Die junge armenische Sopranistin zeigt Violetta in riesiger Gefühlsbreite – als überzeugender Star des Cabarets sowie als verletzliche, einsame, todkranke Frau. Ihr Gesang ist zum Niederknien. Frei von jeglichem Tremolo, lediglich mit einem leichten, angemessenen Vibrato, singt sie diese schwere Partie und scheint dabei frei zu sein von jeglicher Anstrengung. Ich kann mich nicht erinnern, am Ende eines Opernabends je so begeistert von einem Sänger oder einer Sängerin gewesen zu sein.

Was bringt also diese Violetta so vom Weg ab? Es sind in Horáková Jolys Inszenierung vor allem die Männer, die beiden Germonts allen voran. Dramaturgin Juliane Schunke stellt auch  klar, die Inszenierung sei aus einem bewusst weiblichen Ansatz entstanden. So bewirft Alfredo im zweiten Akt die arme Violetta nicht nur mit Geld und verhöhnt sie, sondern schlägt sie auch zu Boden und stopft ihr das Geld, fast schon sadistisch, in den Mund. So kommt er auch nicht am Ende zur todkranken Violetta. Lediglich in ihrem Traum, in ihrer –  dann sich zerschlagenden – Vision ist er gekommen. Sie stirbt allein. Man bleibt so wirklich etwas am Boden zurück. Sonst kann man schließlich als Zuschauer noch an der Versöhnung, an der Liebe von Violetta und Alfredo mitschwelgen. So aber bleibt man etwas fassungslos zurück. Das Fest vom Anfang wirkt nun irgendwie seltsam. „Libiamo ne’ lieti calici“ klingt nun gar nicht mehr so berauschend in meinem Kopf nach. Ganz am Ende kommt der Conférencier in die Proszeniumsloge. Nach dem kurzen retardierenden Moment, wo man meinen könnte, Violetta sei nun aus dem Vorhang des Cabarets heraus in ein Licht, in ein neues Leben getreten, ist der Tod jetzt doch wieder da. Ich muss an das Ende von Pagliacci denken: „La commedia è finita!“. Schrecklich, und doch einfach toll!

Willi Patzelt, 4. Oktober 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

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Giuseppe Verdi, La Traviata LAC Lugano Arte e Cultura, 2. September 2022

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