Fotos: Léo-Paul Horlier (Bestion und Ensemble)
Konzert im Rahmen des Schleswig-Holstein Musik Festivals
Claudio Monteverdi: Marienvesper
Simon-Pierre Bestion, Leitung
La Tempête – Chor und Orchester
Lübecker Dom mit dem Ensemble La Tempête, 9. August 2024
von Dr. Andreas Ströbl
Ein Hausarzt unserer Tage hätte Claudio Monteverdi ein klassisches Burn-out bescheinigt und ihm dringend empfohlen, kürzerzutreten. Was war passiert? Bot der liberale und musikliebende Hof des Herzogs von Gonzaga in Mantua dem Komponisten nicht ein ideales Betätigungsfeld? Der Herzog war leider auch in Sachen Zahlungsmoral eher locker eingestellt und so beklagte sich Monteverdi mehrfach über ausgebliebene Entlohnung. Außerdem wusste man seine großartigen Leistungen am Hofe nicht angemessen zu würdigen.
Zwar war die Uraufführung seiner bahnbrechenden Oper „L’Orfeo“, einem der ersten Werke, das diese Bezeichnung überhaupt verdient, im Jahre 1607 ein echter Erfolg, auch seine Madrigalbücher kamen sehr gut an. Aber der Tod seiner Frau Claudia im selben Jahr traf ihn tief; dass 1608 auch die für die Uraufführung seiner Oper „L’Arianna“ vorgesehene, hochbegabte Sängerin Caterina Martinelli starb, versetzte ihm einen weiteren Schlag.
Ein nervlicher Zusammenbruch ließ Monteverdi aus Mantua abreisen und zu seinem Vater ins heimische Cremona flüchten. Aufgeben lag nicht an und der „Plan B“ bestand darin, sich beim Papst um eine Anstellung als Kirchenmusiker zu bewerben. Die „Bewerbungsmappe“ war die „Vespro della Beata Vergine“. Sein Vorhaben ging zwar nicht auf, doch drei Jahre später nahm man Monteverdi in Venedig (der diesjährigen SHMF-Themenstadt) einstimmig an – die Stellung an San Marco behielt er bis zu seinem Tode.
Die „Marienvesper“ steht, wie der Komponist selbst, an der Schwelle von der Renaissance zum Barock – nein, die Wendung trifft es nicht: Dieses Werk schwebt mit einer sinnlich aufgeladenen Spiritualität über Genre- und Epochengrenzen hinweg, von der Sprengung jeglichen liturgischen Rahmens ganz abgesehen.
Und wer könnte solch eine Komposition besser in unsere Zeit bringen als das Ensemble La Tempête unter der Leitung von Simon-Pierre Bestion, der die durchweg hervorragenden Vokal- und Instrumentalkünstler vor neun Jahren zusammengebracht hat. Dass Monteverdi in der Partitur der Vesper nicht festgelegt hat, wie stimmliche Artikulation, Dynamik und Instrumentierung im Detail gestaltet werden sollen, passt ausgezeichnet zum Credo dieser Musiker, die zwar auf historischen Instrumenten spielen, aber sich viele Freiheiten in der Wiedergabe zugestehen – was modernen Ohren einen zauberhaften klanglichen Weg zur Alten Musik eröffnet.
Bestion hat einmal gesagt, es ginge ihm um „die spirituelle Gegenwart dieser meisterhaften Komposition“, und das trifft es ins Schwarze bzw. ins feierlich Abgedunkelte, erhellt vom Schein Dutzender Kerzen, wie im Lübecker Dom am 9. August 2024.
Die von Monteverdi gekonnt in eine vielschichtige Mehrstimmigkeit integrierten traditionellen Psalmtöne werden von sogenannten concerti in ausgesprochen modernem Stil abgesetzt. Das gibt dem Werk eine klare Struktur und sorgt zugleich für eine abwechslungsreiche Klangfolge. Die zumindest im sakralen Bereich üblichen Antiphonen musste Monteverdi nicht notieren; hier werden fünf davon eingefügt.
Während zeitgleich in Bayreuth der neue „Tristan“ sich nicht recht in den gesamtkunstwerklichen Anspruch fügen will, gelingt es 600 km entfernt einem sympathischen und vielseitigen Ensemble, mit freudvollen Stimmen, die ein geschmeidig kantables italienisches Latein wiedergeben, instrumentalem Wohlklang und vor allem einer den ganzen riesigen Raum bespielenden Choreographie den altehrwürdigen Dom in größtmöglicher Sinnlichkeit – es sei dem protestantischen Rezensenten nachgesehen – wieder seiner katholischen Bestimmung zurückzugeben, eben als Gesamtkunstwerk im besten, bereits frühneuzeitlichen Sinne.
Das Weltlich-Sinnenfreudige entspricht ganz der kompositorischen Haltung Monteverdis und so liest man auf dem Titelblatt der „Marienvesper“ eher kleingedruckt „ad Sacella sive Principum Cubicula accommodata“, also ebenso für den sakralen Raum wie für das Fürstengemach geeignet. Gerade das undogmatische Ignorieren von Genre und Form macht es diesem Werk, zumal in der frei gestaltenden, engagierten Wiedergabe leicht, moderne Ohren zu erreichen und auch nordisch geprägten Lutheranern, Wittenberg erstmal den Rücken zu weisen, wie einst Monteverdi es mit Mantua tat.
Zwar steht das Podium im Westchor, aber Solisten und Choristen singen mal aus dem Ostchor, mal in Tutti-Stärke vor dem Publikum, dann wieder schreiten sie wie Mönche in einem Kreuzgang durch das nördliche und südliche Schiff. Der Hall im Dom ist mörderisch, wie Lübecker Musiker wissen, aber Simon-Pierre Bestion hat Raum und Ensemble im Griff; seine durchweg auswendig ausgeführten Einsätze sorgen für einen ausgewogenen und in der heiklen Tempogestaltung bravourös umgesetzten Zusammenklang aller Mitwirkenden, die mitunter Kerzen anzündend oder Blumen streuend, als Solisten oder in Gruppen singen, als sei es nichts. Die Ensemblemitglieder geben sich auch durch zwar schwarze, aber eher an Freizeitstil orientierter Kleidung einen ungezwungenen Anstrich.
Halbe Discokugeln, die an diversen Stellen auf dem Boden platziert sind, und gemessen eingesetzte Scheinwerfer zaubern Lichtfunken und Schattenbilder an die im Dämmerlicht dunkler werdenden, weißgetünchten Wände, was dem ganzen die Anmutung barocker Dramaturgie verleiht.
Zauberhaft gestalten Amélie Raison (Sopran), Brenda Poupard und Eugénie de Mey (Mezzosopran), Axelle Verner (Alt) sowie François Joron und Edouard Monjanel (Tenor), René Ramos-Premier (Bassbariton) und Florent Martin (Bass) die Solopartien, ebenso wie Duette oder Trios; eine wundervolle Raumwirkung erreichen sie durch die immer wieder eingesetzten Echos, die am Ende gleich vierfach erklingen.
Rhythmische Auflockerungen in tänzerischen 4/4-Takt-Passagen, musikalische Farbenpracht mit Harfen, Langhalslauten und Zinken und ein plötzlich unter einem aufjauchzenden Ruf vom Podium laufender Chor bringen eine liebenswerte Lebendigkeit in dieses ungewöhnliche Konzert vor rund 1000 fast durchweg andächtig lauschenden Besuchern.
Nach dem Verhallen des beschließenden „Amen“ hält es das Publikum nicht auf den Stühlen und es erhebt sich jubelnder Beifall. Diese „Marienvesper“ ist einer der absoluten Höhepunkte des SHMF 2024!
Dr. Andreas Ströbl, 11. August 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Konzert im Rahmen des Schleswig-Holstein Musik Festivals Lübecker Carlebach-Synagoge, 17. Juli 2024