Maria Motolygina (Madame Lidoine), links, und Julie Boulianne (Mère Marie) © Wiener Staatsoper, M. Pöhn
von Andreas Schmidt
„Dialogues des Carmélites“ von Francis Poulenc in DEM Opernhaus Europas, der Wiener Staatsoper, dem Haus am Ring. Es ist Sonntag, 18 Uhr, der Saal ist bis auf den letzten Platz gefüllt in der 2-Millionen-Stadt an der Donau… undenkbar bei so einem „schweren“ Stoff etwa in der 2-Millionen-Stadt Hamburg, wo zu solchen Opern im Repertoire maximal 50 Prozent Zuschauer kommen.
Die Musik an diesem Abend packt einen, das französische Genie Poulenc hat das Werk 1956 beendet, es ist tonal, wenig melodisch, selten zärtlich und oft wuchtig. Allerdings scheint Bertrand de Billy nicht in Bestform zu sein – sein Dirigat ist oft zu lasch und holt nicht alles aus diesem Werk heraus.
Ich probe zur Zeit mit dem Symphonischen Chor Hamburg und mit dem Chor St. Michaelis Hamburg zwei Werke von Poulenc (1899-1963): Das Gloria für Sopran, großes Orchester und Chor von 1960 und das Stabat mater von 1950. Beide Werke sind für mein Empfinden vom Musikalischen her um ein Vielfaches genialer als die „Dialoge“. Das Gloria ist für Poulencs Verhältnisse recht einfach und bietet einige schöne gängige Melodien.
STAR des Abends im Haus am Ring war eine junge Russin. Sie dürfte bei anhaltender Gesundheit eine Weltkarriere vor sich haben und heißt Maria Motolygina. Die Sopranistin sang die Rolle der Madame Lidoine.
Maria Motolygina bezauberte durch Geschmeidigkeit, durch Variabilität, durch Wärme, durch ein einzigartiges Timbre. Nur ihr Gesang vermochte an diesem Abend die Herzen und Seelen der Zuschauer intensivst zu bewegen. Die Russin sang leicht, locker und luftig. Ihre Stimme ist eine wahre, eine herausragende Stimme.
Zwei andere Stimmen waren auch sehr gut – aber nicht herausragend: die der australischen Sopranistin Nicole Car (Blanche) und der frankokanadischen Mezzosopranistin Julie Boulianne (Mère Marie). Frau Car sang lupenrein und fehlerlos, Frau Boulianne überzeugte mit ihrer wunderbaren Wärme in der Tiefe.
Minuspunkt: Viele Darsteller schwächelten an diesem Abend mit der französischen Aussprache. Bei manchen Sängern war die Sprache kaum zu verstehen, ärgerlich… Die Wiener Staatsoper wird sicherlich französische Sprach-Coaches haben…
Maria Motolygina ist Absolventin des renommierten Nachwuchsprogramms am Bolschoi-Theater in Moskau und war Gewinnerin des Internationalen Königin-Sonja-Musikwettbewerbs 2021 in Oslo. Zu den jüngsten Höhepunkten zählen ihr Rollendebüt als Donna Anna / DON GIOVANNI beim Dmitri Hvorostovsky International Opera Festival, die Titelrolle in IOLANTA in einem Konzert mit Vasily Petrenko, das für die Ausstrahlung auf Arte aufgezeichnet wurde, Jeanne d’Arc in Tschaikowskys DIE JUNGFRAU VON ORLÉANS an der Novaya Opera in Moskau, die im Fernsehen übertragen wurde, sowie Wagners Wesendonck-Lieder mit dem Tschaikowsky Symphony Orchestra.
In der Saison 2021/22 gab sie ihr Debüt an der Polnischen Nationaloper als Micaëla in CARMEN und in derselben Partie auch im November 2022 an der Deutschen Oper Berlin. Hier ist sie in der Saison 2022/23 Inhaberin des Belcanto-Stipendium des Förderkreises der Deutschen Oper Berlin und außerdem u a. als Anna / NABUCCO, 1. Dame / DIE ZAUBERFLÖTE, Maria/Amelia / SIMON BOCCANEGRA und Azema / SEMIRAMIDE zu erleben.
LESEN SIE BITTE DEN BEITRAG VON JÜRGEN PATHY AUS DER WIENER STAATSOPER VOM 28. Januar 2024!
Die Gnade Gottes! Wer das Tribunal der Französischen Revolution verärgert, dem widerfährt sie nicht. Weil die 16 „Karmelitinnen“ ihr Gelübde nicht brechen wollen, rollen ihre Köpfe. Francis Poulencs Oper „Dialogues des Carmélites“ basiert auf diesem historischen Ereignis. Papst Pius X. spricht die Ordensschwestern 1906 heilig. Ganz so weit möchte ich bei Bertrand de Billys Dirigat dieses Mal nicht gehen.
Dialogues des Carmélites
Francis Poulenc
Text nach dem Drama von Georges Bernanos
Bearbeitet mit der Genehmigung von Emmet Lavery
Nach einer Erzählung von Gertrud von Le Fort
und einem Drehbuch von Pfarrer Bruckberger und Philippe Agostini
von Jürgen Pathy
Nachdem ab der Pause der Hexenkessel zum Kochen beginnt, zieht die erste Hälfte der tragischen Oper etwas belanglos an mir vorüber. Dass es der Partitur geschuldet ist, bezweifle ich stark. Vor einigen Monaten erst hatte de Billy bereits von Anbeginn eine tiefergehende Sogwirkung aus dem Orchestergraben entfalten können. 1957 uraufgeführt, sucht man in der Partitur vergebens nach Experimentellem.
Romantisch, harmonisch, ohne auffallende Dissonanzen schwebt die Musik durch den Saal. Streicher lastig, einige Soli dazu – 1 x Englischhorn, einige Male die Klarinette –, bombastische Blechausbrüche. Schwuppdiwupp steht die etwas ohne Markenzeichen gesetzte Musik im Raum.
Gute Balance zwischen Persiflage und Biederkeit
Hervorstechen eher die Protagonisten auf der Bühne. Man könnte meinen, der Beichtvater sei eine Persiflage eines bigotten Pfaffen. Ensemblemitglied Thomas Ebenstein steht wieder parat, wenn es darum geht, etwas skurrile Charaktere zu verkörpern. KS Clemens Unterreiner erhält ebenso einen seiner unzähligen Auftritte. Bei wie vielen Partien der gebürtige Wiener und Paradiesvogel an der Wiener Staatsoper mittlerweile steht, kann man nur raten. Weit über hundert sollten es schon sein.
Stimmlich zeigt Michaela Schuster, dass sie nicht nur boshaft und raubeinig sein kann, auch die sanfteren Züge liegen ihrer charakteristisch sehr auffallenden Mezzo-Stimme. Bernard Richter, der schon als Idomeneo einen schmeichelhaften Eindruck hinterlassen hat, lässt seinen leuchtend hellen Tenor geschmeidig fließen.
Maria Motolygina hat beim Publikum ganz klar das Rennen gemacht. Ihre Stimme ist trotz ihres jungen Alters bereits mit enormer Dramatik ausgestattet. Nicole Car komplettiert das doch erfreuliche Sängergespann, das sich in Magdalena Fuchsbergers Inszenierung durch einen Skelettbau aus Holz schlägt.
„Mon Dieu“, hört man da aus der windigen Hütte hallen. Französische Oper eben, mit der man schon seinen Frieden schließen muss. Muss man mögen, grenzt teilweise bei der vermutlich nicht lupenreinen Aussprache an dick aufgetragene Lautmalerei.
Ausgewogene Regie mit wenig christlicher Symbolik
Der Regie gelingt der Spagat, das Bühnenbild klassisch zu halten, ohne dabei auf Raffinessen zu verzichten. An Pussy Riot, das kirchenkritische Performance-Kollektiv aus Moskau, denkt man hier ebenso, wie bis an die Zähne bewaffnete Hamas Terroristen. Irgendwo dazwischen streift fast schon wie ein Damoklesschwert über allen schwebend ein stummer Herold elegant durchs Bild. Sicherlich ein weibliches Mitglied des Corps de Ballett, das hier etwas Mystik in das Bühnenbild bringt.
Überwiegend anständig, eine Oper für Personen, die dem Glauben verhaftet sind. Rechts von mir trägt ein Herr provokant sein Kreuz um den Hals zur Schau. Von der Bühne zieht regelmäßig der Geruch von Schwarzpulver bis nach oben in der Galerie, als hätte der Hölle Rachen irgendwo seine Pforten geöffnet. Die Holzbühne überlebts.
Der eiserne Vorhang fällt während der Pause sowieso – brandschutztechnisch mit Sicherheit eine gesetzliche Verordnung.
Wäre mir bislang gar nicht aufgefallen, hätten die Garderobiere am Balkon meine Neugierde nicht mit diesen Infos gefüttert. „Nach dem dritten Läuten hebt sich der eiserne Vorhang wieder“, belausche ich deren Gespräche. Teile des Publikums haben da schon die Segel gestrichen. Ein Fehler: Niemals vorzeitig kapitulieren. Man weiß nie, was der Abend noch so bringt. Versöhnlicher Abschluss auch aus dem Graben, den das Staatsopernorchester am Leben erhält.
Jürgen Pathy (klassikpunk.de), 30. Januar 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Wieso die junge Frau nur in der Produktion zum Einsatz kommt, war sie doch schon in der Premieren-Serie sehr positiv aufgefallen? Zur Produktion, möchte ich feststellen, gab’s in Hamburg eine großartige Lehnhoff-Inszenierung mit einem Gänsehautfinale. In Wien wird diese Schlussszene leider komplett verschenkt.
Frikra