Foto: Alexander Arlt, Kronau, FSB
von Jolanta Łada-Zielke
Wenn ich Krakau besuche, erzähle ich befreundeten Dirigenten von meinem Singen im Chor. Sie sagen oft, dass sie mich beneiden, weil deutsche Chöre eine sehr reiche Tradition haben. Also habe ich beschlossen, diese Tradition besser kennenzulernen.
Mit großer Freude habe ich den Ort entdeckt, an dem die Geschichte deutscher Gesangvereine dokumentiert ist: das Sängermuseum, das mit Archiv und Forschungszentrum des Deutschen Chorwesens an der Universität Würzburg in Feuchtwangen in Mittelfranken beheimatet ist. Ich bin dorthin gekommen, um mit dem Archiv- und Museumsleiter Alexander Arlt zu sprechen, der auch selbst Chorleiter ist.
„Das Sängermuseum in Feuchtwangen gründete man im Jahr 1989“, erzählt Alexander Arlt. „Davor gab es das Deutsche Sängermuseum im ehemaligen Katharinenkloster in Nürnberg, das 1925 eingeweiht, aber während des Zweiten Krieges (im Januar 1945) nahezu vollständig zerstört worden ist. Von dieser Zeit zeugen einige Bilder, anhand deren man sich einen ersten Eindruck von der Ausstellung machen kann. Der Deutsche Sängerbund nutzte damals auch die Klosterkirche. Dort waren nicht nur das Gefallenendenkmal des deutschen Sängerbundes und das des Deutschen Arbeiter-Sängerbundes zu finden, auch fanden dort regelmäßig Chorkonzerte statt. Ein wichtiger Bestandteil der Ausstellung waren Vereins-und Verbandfahnen, wie das Bundesbanner des Deutschen Sängerbundes, das gleich im Foyer des Museum die Besucher begrüßte. Zum Glück überstand die Fahne den Zweiten Weltkrieg nahezu unbeschadet im Depot des Germanischen Nationalmuseums. Gleiches gilt für die Fahne des Deutschen Sängerfestes in Nürnberg 1861, die heute zu unseren wertvollsten Exponaten gehört.“
Ich schaue mir diese beeindruckende Fahne in der Vitrine an.
„Also doch Nürnberg! – sage ich mit Begeisterung. – Dort fing das alles an, und es gab zweifellos eine Verbindung zu den Meistersingern.“
„Im Deutschen Sängerbund hat man sich tatsächlich immer wieder auf die Meistersinger berufen“, antwortet Alexander. „Man ging sogar noch bis zu den Minnesängern zurück. Natürlich gibt es Gemeinsamkeiten, die sind aber nicht eins zu eins auf die Laienchorbewegung zu übertragen. So war auch die Katharinenkirche in Nürnberg der Treffpunkt der Meistersinger bis zu ihrer Auflösung. Deswegen nennt man sie auch „die Meistersinger-Kirche“. Das mag auch ein Grund gewesen sein, weswegen man die ehemalige Klosteranlage für geeignet hielt, dort das Deutsche Sängermuseum mit einem Sängerarchiv einzurichten.
So erfahre ich von dem Deutschen Sängerbund, der 1862 als ein Dachverband der deutschen Laienchöre gegründet wurde. Später gab es auch den Deutschen Arbeiter-Sängerbund, der die gleiche Funktion für die Arbeiterchöre erfüllte.
Den ersten als Verein organisierten Gesangsverein gründete Carl Friedrich Zelter (1758-1832) im Jahr 1809 in Berlin, die so genannte Zeltersche Liedertafel. Es existierten außerhalb der Kirche schon damals weitere Chöre und andere singende Gemeinschaften. Bei ihnen lässt sich bisweilen eine richtige Vereinsstruktur – aber nur im Ansatz – nachweisen. Ein Jahr nach Zelter gründete Hans Georg Nägeli (1773-1836) eine Männerchorvereinigung in der Schweiz. Die beiden Männer gelten als Hauptinitiatoren der deutschen Laienchorbewegung. Zwischen den beiden Chören gab es jedoch einen großen Unterschied.
In der Zelterschen Liedertafel war die Anzahl der Mitglieder auf 25 beschränkt, die zudem die Voraussetzung zu erfüllen hatten, entweder singen, dichten, oder komponieren zu können.
Foto: Sängermuseum, Feuchtwangen
Hans Georg Nägeli war als Musikpädagoge hier wesentlich offener. Befreundet mit Johann Heinrich Pestalozzi (1746 -1827) übernahm er dessen Idee der Volksbildung in seine Chorarbeit. Sein Männerchor stand also einer breiteren Schicht der Bevölkerung offen, während die Zeltersche Liedertafel eher elitäre Züge trägt.
Hatten die Chorsänger eine Stimmbildung?
Die Zeltersche Liedertafel bestand anfangs aus Mitgliedern der Berliner Sing-Akademie, daher ist anzunehmen, dass die Sänger dort über eine entsprechende Fortbildung verfügten. Grundsätzlich war bei den Chören eine Stimmbildung aber nicht vorgesehen, sie war aber sicher ein Teil der regelmäßigen Sing-Übungen. Es gab daneben Gesangsvereine, die besonders begabten Sängern im Rahmen eines Stipendiums eine professionelle Gesangsausbildung ermöglichten.
Waren das ausschließlich Männerchöre?
Anfangs ja, was gesellschaftlich bedingt war. Die Stellung der Frau war zu dem Zeitpunkt nicht so gleichberechtigt wie heute. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts mussten regelmäßige Zusammenkünfte polizeilich gemeldet werden, es war nicht gestattet Vereine zu gründen. Mit der Zeit sind immer mehr Frauen in bereits existierende Männer-Gesangvereine eingetreten. Anfangs nur als passive Mitglieder fingen sie nach und nach auch zu singen an. Im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts organisierten sich dann viele Männerchöre zu gemischten Chören um.
Gab es schon damals die Funktion eines Stimmsprechers?
Sicherlich gab es sie schon im 19. Jahrhundert, vor allem bei größeren Chören mit 100 bis 200 Sängern, damit sie organisatorisch besser funktionieren konnten. Die Stimmsprecher waren die ersten Ansprechpartner, die zwischen Sängerschaft und dem Vorstand „vermittelten“. Diese Funktion gibt es noch heute in einigen Chören. Vereinsrechtlich handelt es sich aber nicht um obligatorische Posten.
War die Zugehörigkeit zu einem solchen Chor ein Art Prestige, oder eher eine Form der Freizeitgestaltung?
Die Zeltersche Liedertafel war schon im Grundgedanken recht elitär. Sie wandte sich bewusst an das Bildungsbürgertum. Später als sich die Chöre und Gesangvereine weiter verbreiteten, war die Mitgliedschaft natürlich auch eine Frage des Prestiges, besonders im ländlichen Raum. Für hoch angesehene Gemeindemitglieder gehörte es durchaus ebenso „zum guten Ton“ Mitglied im örtlichen Gesangverein zu sein und so ist es zum Teil sogar noch heute.
Ein anderer wichtiger Aspekt war die Geselligkeit. Schon die Zusammenkünfte der Zelterschen Liedertafel fanden stets im Rahmen eines gemeinsamen Essens statt. An diesem Modell orientierten sich später aber nur vergleichsweise wenige Gesangvereine. Dennoch stärkten Feierlichkeiten und Konzerte den Zusammenhalt im Verein. Davon profitierten auch die passiven Mitglieder. Mit steigender Anzahl von Gesangvereinen kam es schließlich zu ersten Besuchen untereinander, zunächst ganz zwanglos. 1825 wurde das erste Sängerfest in der Schweiz gefeiert, was schon im Jahr 1827 in Württemberg Nachahmung fand.
Also eine Art Chorfestivals?
Zunächst waren es Sängerfeste mit eher regionalem Charakter, es wurden aber nicht nur die Feste sondern auch die Anzahl auswärtiger Vereine größer. 1838 gab es in Frankfurt am Main ein erstes „Deutsches Sängerfest“, das vom Charakter aber eher noch als regional einzustufen ist. 1845 wurde in Würzburg ein Sängerfest veranstaltet, das erstmals auch überregional ausstrahlte. Zu diesem „ersten allgemeinen Deutschen Sängerfest“ kamen Gäste unter anderem aus München, Köln, Dresden und Hamburg. Besondere Aufmerksamkeit galt aber den Sängern aus Schleswig, damals unter dänischer Herrschaft, und aus Holstein, die mit ihrem gemeinsamen Besuch auch ein politisches Zeichen setzten.
Zwar durften am Anfang nur Männer im Chor singen, die Geschichte der Chorvereine bleibt trotzdem spannend. Im nächsten Teil des Gesprächs mit Alexander Arlt erfahren wir mehr über den Einfluss der Politik auf die Gesangsvereine und ihr Repertoire.
Jolanta Łada-Zielke, 30. Oktober 2021, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at