Alexandre Riabko (Sorin), Ana Torrequebrada (Nina), Nathan Brock (musikalische Leitung), Louis Musin (Kostja), John Neumeier, Anna Laudere (Arkadina), Petar Kostov (Klavier), Matias Oberlin (Trigorin), Joaquin Angelucci (Dorn), Hayley Page (Polina) (Foto: RW)
Und als John Neumeier vor seine herausragenden Tänzerinnen und Tänzern auf die Bühne trat, gab es im Publikum kein Halten mehr. Das Parkettpublikum sprang geschlossen auf und jubelte seinem ehemaligen Ballettintendanten zu.
Die Möwe
Ballett von John Neumeier frei nach Anton Tschechow
Choreografie, Licht, Bühnenbild und Kostüme: John Neumeier
Musik: Schostakowitsch, Tschaikowsky, Skrjabin, Glennie
Philharmonisches Staatsorchester Hamburg
Leitung: Nathan Brock
Klavier: Petar Kostov, Violine: Konradin Seitzer, Violoncello: Olivia Jeremias
Hamburgische Staatsoper, Wiederaufnahme, 21. September 2025
von Dr. Ralf Wegner
Die Opernwelt dreht sich um John Neumeiers Porträt
Im Vorfeld der neuen Saison wurden überraschende Dinge angekündigt, die Foyers und Treppenhäuser würden neu gestaltet, das Gold auf die Säulen zurückgeholt und im Parkettfoyer ein riesiges Fußbodengemälde installiert werden. Zudem sollte es eine Bildergalerie in Petersburger Hängung geben. Die Erwartungen waren damit hochgeschraubt.
Viel geändert hatte sich allerdings nicht, der Marmorboden in den beiden Treppenhäusern war noch vorhanden, statt der Leuchtkästen mit Bildern von Opern- und Ballettaufführungen schmückten in Serie geschaltete farbige Leuchtstoffröhren die Wände. Offenbar gehörte das auch zur Kunstinstallation. Vom Parkettgemälde war ob der vielen Parkettwandler nicht viel zu sehen. Es sah irgendwie lila aus.
Dabei fiel mir ein, früher, vielleicht auch ganz früher, lustwandelte man im Parkett tatsächlich, mehr oder weniger bewegte sich das Pausenpublikum im Kreis, bis zuschauerraumseitig eine in das Parkett hineinragende, den Fluss störende Kammer errichtet wurde. Das Hamburger Haus ist eben sehr klein.
Wer lustwandeln will, macht das von unten nach ganz oben zum Foyer des vierten Rangs. Dort sah es auch anders aus. Die superbequemen gepolsterten Ledersofas waren entfernt worden, dafür hatte man offenbar im Stilbruchkaufhaus nach Sitzgelegenheiten gesucht, die an die 1950er Jahre erinnern. Kann man machen, das Haus stammt ja aus jener Zeit.
Am besten gefiel die Bilderwand an der Stadtseite des Parkettfoyers. In der Mitte prangte das bekannte Gemälde von John Neumeier, angesichts seiner Bedeutung für das Hamburger Haus völlig zu Recht, drum herum kreiste die Historie des Hauses.
Manche waren zu identifizieren, auch dank der Autographen, so die Sängerin Helga Pilarczyk, offenbar als Salome, oder, ganz oben, unverkennbar Anneliese Rothenberger. Und wer war der junge Mann links, Peter Hofmann oder doch Ingo Metzmacher? Wohl doch eher Letzterer. Denn überwiegend schmückten Porträts ehemaliger Generalmusikdirektoren die Bilderwand wie Christoph von Dohnányi oder Simone Young. Außerdem fehlten die Opernsuperstars an den Wänden, die hier auch gesungen hatten, jedenfalls haben wir sie nicht gefunden, Caruso, Domingo, Pavarotti oder Birgit Nilsson. Nun, diese Hochkaräter haben ja überall gesungen.

Dafür war Marianne Kruuse zu sehen, die mit John Neumeier 1973 nach Hamburg kam und jetzt immer noch bei Ballettaufführungen im Publikum zu sehen ist. Und es fehlten natürlich nicht die historischen Persönlichkeiten, die an diesem Hause tätig waren wie Händel, Telemann oder Mahler. Wer war die jugendliche Walküre, die so strahlend von der Wand herabschaute? Wer die Tänzerin mehr links an der Wand? Hier konnte jeder selbst seinen kulturellen Bildungsstand überprüfen.

Auf der Bühne geht es um unglückliche Liebe
Aber nun zum Stück, John Neumeiers Ballett Die Möwe. Ein junger Mann faltet aus Papier einen Vogel, eine schwarz gekleidete Frau beobachtet und nähert sich ihm, ein anderen junger Mann zieht sie weg. Der Zuschauerraum verdunkelt sich und Nathan Brock betritt im Graben das Dirigentenpult. Bei dem jungen Mann handelte es sich um Konstantin (Kostja), der von Mascha, der schwarz gekleideten jungen Frau, angehimmelt wird, um die sich wiederum der Dorflehrer Medwedenko bemüht.
Man erkennt, in diesem Stück geht es um unglückliche Liebe nach dem Motto A liebt B, B liebt C und so weiter. Bis auf Kostja kommen damit alle klar, sie fügen sich in ihr Schicksal wie Mascha (Xue Lin), die schließlich den Lehrer (Lennard Giesenberg) heiratet, oder Polina (Hayley Page), mit dem Gutsverwalter (Florian Pohl) verheiratet, die ihre Sehnsüchte heimlich mit dem Dorfarzt Dorn (Joaquin Angelucci) auslebt.
John Neumeiers Interpretation von Tschechows Drama Die Möwe ist und bleibt eines seiner besten und tiefgründigsten Ballette. Und das Hamburg Ballett zeigte, dass es trotz des Verlustes von fünf Ersten Solisten (Christopher Evans und Alexandr Trusch werden als Gasttänzer wieder auftreten) immer noch bestens Neumeier tanzen kann. Das will was heißen, immerhin sind zehn Personen in Rollen mit hohem tänzerischen, vor allem aber darstellerisch forderndem Können zu besetzen.
Am meisten überraschte mich Matias Oberlin, der als Trigorin mit empathischer Hinwendung die Tänzerinnen um den Finger wickelt, ohne dabei seinen bübischen Charme zu verlieren. Anna Laudere (Arkadina) und Ana Torrequebrada (Nina) buhlten um ihn. Nina bleibt für ihn eine kurze Affäre. Mitgenommen zum Revuetheater nach Moskau erkennt er sie unter der blonden Perücke nicht wieder. Dabei hatten beide noch auf dem Lande einen hocherotischen Pas de deux hingelegt.

Kostja, herausragend von Louis Musin verkörpert, verbleibt in seiner Welt. Er, der verzweifelt Anerkennung bei seiner Mutter sucht, schafft es nicht aus seiner inneren Blase heraus. Er tötet am Ende seine Gedanken und verschwindet im Nichts. Kostja ist am schwierigsten zu verstehen, alle anderen bleiben zielstrebig, auch wenn sie am Ende nach Kostjas Tod, starr wie Mumien, im Sorin’schen Garten verharren. Sorin, Kostjas Onkel und dessen einziger Freund, sorgt sich, anders als Arkadina, rührend um den Neffen. Alexandre Riabko spielt das unnachahmlich.
Das hört sich alles recht traurig an. Und es bedarf einer gewissen Aufmerksamkeit, um das Personal des Stücks richtig zuzuordnen. Dann aber steigt die Tiefenspannung und man fiebert mit den Sehnsüchten der Bewohner und Gäste im Hause Sorin mit. Der zweite Teil spielt vorwiegend in Moskau am Theater und Neumeier gibt dem Publikum mit Revue vom Feinsten, einem erinnerungswürdigen Solo von Ana Torrequebrada als Nina und einer parodistisch anmutenden kaiserlich-klassischen Ballettinterpretation ordentlich Zucker.
Das Philharmonische Staatsorchester spielte unter der Leitung von Nathan Brock bewegend und als John Neumeier vor seine herausragenden Tänzerinnen und Tänzern auf die Bühne trat, gab es im Publikum kein halten mehr. Das Parkettpublikum sprang geschlossen auf und jubelte seinem ehemaligen Ballettintendanten zu, Lloyd Riggins überreichte ihm als Dank einen Blumenstrauß, Blumen flogen auch für die ausgezeichneten Tänzerinnen und Tänzer auf die Bühne.
Dr. Ralf Wegner, 22. September 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Beitrag: Neues vom Hamburg Ballett Hamburg Ballett, Hamburgische Staatsoper, 12. September 2025
Die kleine Meerjungfrau, Ballett von John Neumeier Hamburgische Staatsoper, Neufassung, 6.Juli 2025