Glanzvolle Premiere im ukrainischen Opernhaus Lwiw/Lemberg steht im Visier russischer Raketen

DIE SCHRECKLICHE RACHE – Oper von Jewhen Stankowytsch, nach Mykola Gogol  National Oper Lwiw / Lemberg

National Opera Lwiw / Lemberg © Ruslan Lytwyn

DIE SCHRECKLICHE RACHE
Oper von Jewhen Stankowytsch, nach Mykola Gogol

Uraufführung – National Oper Lwiw / Lemberg – über die  “Quadratur des Kreises”

von Dr. Charles E. Ritterband

Die prachtvolle Lemberger Nationaloper aus dem Jahr 1900 mit ihrer an die Wiener Staatsoper erinnernden Fassade, ihrer eleganten Freitreppe, Plüsch, Karyatiden und reich vergoldeter Stuckatur erstrahlt nach wie vor im Glanz der K.u.K. Monarchie – und jetzt hat, in diesem makellos instandgehaltenen Opernhaus im Zentrum der ukrainischen Stadt Lwiw inmitten in dieses gnadenlosen Kriegs eine Opernpremiere stattgefunden: Yevhen Stankovych – der 80-jährige vielleicht prominenteste Komponist der Gegenwart in der Ukraine – „Furchtbare (Schreckliche) Rache“, beruhend auf Nikolai Gogols Kurzgeschichte.

Oper wie einst – mit einem Unterschied: Nach der üblichen Aufforderung  an das Publikum, die Mobiltelefone auszuschalten, kamen Instruktionen für den Fall eines Luftalarms. Und vor der Ouvertüre stimmte das Orchester die ukrainische Nationalhymne an, die vom Publikum mit einer Hand am Herz inbrünstig mitgesungen wurde. Inszeniert hat Andreas Weirich, Spielleiter und Regisseur an der Bayerischen Staatsoper München. Dirigent war Volodymyr Sirenko.

Die Oper Lwiw ist eine von sechs ukrainischen Opernhäusern und die am westlichsten gelegene – dadurch auch relativ sicher. Dennoch – eine halbe Stunde nach Beginn der Aufführung drängte sich eine schattenhafte Figur vorbei an der ersten Publikumsreihe und beugte sich zum Dirigenten hinab, der sofort die Musik unterbrach. Der Vorhang fiel und der Luftalarm ertönte. Diszipliniert und ohne Panik strömte das Publikum hinab in den Luftschutzkeller – der gleichzeitig als Bar und Pausenraum der Oper diente.

Der Alarm war wegen MIG-Kampfflugzeugen ausgelöst worden, die in Russland von einem relativ nahegelegenen Stützpunkt gestartet waren. Bald jedoch wurde das Publikum wieder in den Zuschauerraum hinauf gebeten, die Vorstellung konnte weitergehen. In der Oper gibt es einen Bösewicht, den Hexenmeister. Doch Regisseur Weirich hätte es für billig gehalten, diesem eine Putin-Maske überzuziehen: Das Publikum konnte selbst die Parallelen zu Putins Präsidenten ziehen.

National Oper Lwiw / Die schreckliche Rache hier Szenefoto © Evgeny Kravs

Lwiw/Lemberg war unter der Monarchie eines der bedeutendsten jüdischen Zentren – mehr als ein Drittel der Bevölkerung, über 100 000 Personen, waren Juden. In seiner Erzählung „Hohes Schloss“, nach der einstigen Burg auf dem Lemberger Schlossberg, beschrieb der jüdische Schriftsteller Schalom Alejchem seine Kindheit in Lemberg.

Unter der Besetzung durch NS-Deutschland wurden im einstigen Lemberger Ghetto 150 000 Juden zusammengepfercht, bevor sie in die Todeslager verfrachtet wurden. Heute leben noch etwa 1500 Juden in Lwiw.

Der Komponist des nun im Lwiwer Opernhaus aufgeführten Werkes, Yevhen Stankovych, hat auch das „Kaddish Requiem“ (beruhend auf Gedichten des ukrainischen Diplomaten, Politikers und Dichters Dmytro Pavylchko) geschaffen, welches beim Konzert zum 75. Jahrestag des Massenmords an den Juden von Kiev in Babyn Yar – der opferreichsten Erschießung von Juden im gesamten von NS-Deutschland beherrschten Europa – im September 1941 aufgeführt wurde. Insgesamt wurden in Babyn Yar unter der deutschen Besetzung zwischen 100 000 und 150 000 Juden ermordet.

Dr. Charles Ritterband, 11. Mai 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

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