DSO Bihlmaier, Soltani, Musikfest 04092025 © Marlene Pfau
...ein aufregendes Konzert unter Anja Bihlmaier in Berlin
Deutsches Symphonie-Orchester Berlin
Anja Bihlmaier / Dirigentin
Kian Soltani / Violincello
Peter Tschaikowsky (1840-1893) / Variationen über ein Rokoko-Thema für Violoncello und Orchester A-Dur op. 33
Bernd Alois Zimmermann (1918-1970) / Musique pour les soupers du Roi Ubu
Olly Wilson (1937-2018) / Shango Memory
Dmitri Schostakowitsch (1906-1975) / Symphonie Nr. 9 Es-Dur op. 70
Philharmonie Berlin, 4. September 2025
von Julian Führer
Das Musikfest Berlin bietet während mehrerer Wochen im September die Gelegenheit, unterschiedliche Orchester und Musizierstile kennenzulernen und so dem ohnehin schon reichen Berliner Musikleben noch weitere Facetten hinzuzufügen. Das DSO Berlin präsentierte unter Anja Bihlmaier ein abwechslungsreiches Programm, das einen Schwerpunkt in der musikalischen Groteske und im 20. Jahrhundert hatte.
Zu Beginn jedoch spielte Kian Soltani Tschaikowskys Rokoko-Variationen. Dieses weder besonders lange noch besonders laute Stück lebt von der Zurückhaltung des Komponisten. Tschaikowsky, der Mozart sehr verehrte, nutzt ein Thema der Vergangenheit, um mit den Mitteln des romantischen Konzerts und großer Virtuosität ein kleines Wunderwerk zu erschaffen.

Kian Soltani, immer noch keine 35 Jahre alt, verfügt über eine große Konzerterfahrung und eine stupende Technik, die es ihm erlaubten, den Eindruck einer ganz freien und wie selbstverständlichen Interpretation zu vermitteln. Ein Blick in die Partitur zeigt dabei aber, wie verzwickt die vielen Lagenwechsel, die extreme Spreizung von tiefsten zu höchsten Tönen und diverse Verzierungen angelegt sind. Wahre Meisterschaft zeigt sich darin, dies alles einfach erscheinen zu lassen. Dies gilt auch für das Orchester. Gerade in der siebten und letzten Variation ist der Solist sehr gefordert, aber auch die Koordinationsarbeit der Dirigentin, da das Soloinstrument in einen sehr schnellen Dialog mit der Flöte eintritt und der Cellist dabei keinen Blickkontakt zur Flöte hat.

Der ersten musikalischen Sternstunde folgte mit Tschaikowskys Nocturne für Violoncello und Orchester eine Zugabe, das Abgehen größerer Teile des Orchesters, dann eine längere Umbaupause, anschließend das Wiederauftreten der Musiker und endlich eine recht breit angelegte Einführung der Dirigentin in das folgende Werk, die Ballettmusik „Musique pour les soupers du Roi Ubu“ von Bernd Alois Zimmermann. Sie umriss den musik- und theaterhistorischen Hintergrund des Stückes, ging auf die Kompositionstechnik und auch auf die Gestalt des Königs Ubu ein – ein wichtiger Prolog zu dem, was folgte, doch eigentlich auch im gedruckten Programm, im Netz oder in der Einführung zum Konzert zu erfahren.

Das Stück ist stellenweise maßlos wie König Ubu selbst und schichtet in einer Collagetechnik Passagen aus Werken der Musikgeschichte von der Renaissance bis Karlheinz Stockhausen über- und nebeneinander. Die älteren Stücke werden dabei buchstäblich zerhackt oder durch Dissonanzen verfremdet. Das Resultat ist schlicht aufregend. Zimmermann hat zwar kaum eine Note selbst „erfunden“, aber lässt Wagner Walkürenritt mehrfach auf Berlioz’ Symphonie fantastique aufprallen oder verzerrt den Radetzkymarsch in einen Dreivierteltakt, während gleichzeitig eine Jazzcombo spielt. Das Publikum reagierte begeistert und feierte Musiker und Dirigentin Anja Bihlmaier schon zur Pause für diese fulminante Darbietung eines viel zu selten gespielten Stückes.
Das Stück „Shango Memory“ des Amerikaners Olly Wilson konnte hier nicht ganz mithalten; die geschilderte Donnerszene übernimmt musikalische Gewittersequenzen von Beethoven bis Wagner, behandelt das Holz dabei etwas stärker wie Mahler und ist sonst nahe bei Gershwin angesiedelt. Die Orchesterbesetzung war viel ‘klassischer’ als bei Zimmermann, die Klangsprache letztlich auch.
Die 9. Symphonie von Dmitri Schostakowitsch, die 1945 vollendet wurde, steht in Es-Dur und damit in einer als heldisch geltenden Tonart. Wie so oft verweigerte sich Schostakowitsch jedoch dem eigentlich Naheliegenden, also einer Hymne auf den Sieg im Zweiten Weltkrieg, wie sie nach der 7. (Leningrader) Symphonie und der schmerzverzerrten 8. Symphonie von 1943 zu erwarten gewesen wäre. Ein munteres und nicht sehr originelles Dideldum-Thema wird in einer klassischen Sonatensatzform durchdekliniert, dabei mit einem irritierend kleinen Instrumentenapparat, dazwischen quakt und blökt immer wieder eine präpotent aufsteigende Quarte in der Posaune, worauf aber nur eine zwitschernde Piccoloflöte und sonst niemand im Orchester zu reagieren scheint. Die Posaune versucht es etliche Male, aber niemand scheint sich für sie zu interessieren… Der Siegesgestus verplätschert.

Im zweiten Satz wird es langsam, hier in Berlin vielleicht eine Spur zu langsam. Die Klarinetten des DSO zeigten ihre ganze Klasse, im vierten Satz dann das Solofagott. Der Schlusssatz ist dann wieder kein Triumph, sondern scheint eher für den Zirkus geschrieben. Hier war Schostakowitsch wohl (nicht zum ersten Mal) zu weit gegangen: In den nächsten Jahren wurden er und andere wegen „Formalismus“ und anderer nie definierter, aber immer mit Heftigkeit vorgetragener Vorwürfe attackiert – und Schostakowitsch wartete bis nach Stalins Tod acht Jahre später, bevor er wieder eine Symphonie zur Uraufführung brachte.
Dieses Konzert wurde auch am Ende noch einmal mit starkem Applaus bedacht, sowohl für das Orchester insgesamt als auch für das fabelhafte Holz, die Solovioline, das sehr exakte Schlagwerk und alle anderen. Auch Anja Bihlmaier konnte sich über diesen großen, hochverdienten Applaus freuen. Trotz des scheinbar etwas verstiegenen Konzertprogramms war die Berliner Philharmonie so gut wie ausverkauft, und das bemerkenswert junge Publikum hörte hochkonzentriert zu. Eine Krise der klassischen Musik? Wenn es solche Konzerte gibt: bestimmt nicht!
Julian Führer, 5. September 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Eröffnungskonzert RCO, Klaus Mäkelä Philharmonie Berlin, 30. August 2025
Kirill Petrenko Dirigent, Berliner Philharmoniker Philharmonie Berlin, 29. August 2025
Mao Fujita, Renaud Capuçon, Kian Soltani Düsseldorf, Robert-Schumann-Saal, 6. Juli 2025