DVD-Besprechung: Arturo Benedetti Michelangeli: “Beyond Perfection“
Dokumentation, D, 2019, 79 Minuten, DVD /BlueRay (Unitel)
Ko-Produktion der 3B-Produktion GmbH mit SWR, Arte, SRF und Unitel, gefördert durch die MFG Baden-Württemberg.
Autoren, Regie: Syrthos J. Dreher, Dag Freyer
„Ein ganzes Leben reicht so gerade eben, um eine Sache gut zu machen“ (Arturo Benedetti Michelangeli)
Von Dr. Holger Voigt
In diesem Jahr wäre er einhundert Jahre alt geworden (geboren am 5. Januar 1920 in Brescia, Italien). Indes weilt er schon seit einem Vierteljahrhundert nicht mehr unter uns (gestorben am 12. Juni 1995 in Pura, Kanton Tessin, Schweiz).
Aus dem Gedächtnis der Klassikwelt ist er nie verschwunden; in Italien wird er fast wie ein Heiliger verehrt. Trotz eines eher begrenzten Repertoires ist sein musikhistorischer Fußabdruck riesig. Hört man heute einen seiner Konzertmitschnitte, ist man unmittelbar elektrisiert und weiß, dass er es ist, der da spielt. Wie kann so etwas passieren?
Sicher ist, dass der unerbittliche Meister des kontrollierten Klangästhetizismus, der nur absolute Perfektion bei sich zuließ, über eine grandiose Anschlagtechnik verfügte, die ihn in die Lage versetzte, alle klanglichen Grenz- und Übergangsbereiche zu kontrollieren. Nicht ein einziges Mal ist ihm ein Fehler unterlaufen. Gleichwohl war er zumeist mit sich selbst unzufrieden und verließ oft unmittelbar nach den Konzerten abrupt den Konzertsaal. Er verzieh nie etwas, weder sich noch anderen. Sein Kontrollzwang führte dazu, stets mit zwei eigenen Konzertflügeln und seinem eigenen Klavierstimmer, dem Pianisten Angelo Fabbrini, anzureisen, die er oftmals beide dann vor Ort für unbespielbar befand. Kurzerhand wurde dann das anstehende Konzert abgesagt, selbst wenn das Publikum schon im Saal Platz genommen hatte.
Einmal kam ihm zu Ohren, dass der Konzertsaal kurz vor Beginn gelüftet worden war, woraufhin er das Konzert unmittelbar absagte. Sein Freund Sergiu Celibidache betonte allerdings in einem Interview, dass alle Konzertabsagen Benedettis (der in seiner Umgebung „ABM“ genannt wurde), stets einen sachlichen nachvollziehbaren Grund hatten, der nicht von der Hand zu weisen war. Wenn Arturo Benedetti Michelangeli heraushörte, dass der Flügel nicht so klang, wie er es verlangte, dann hatte dieses seinen Grund.
Jeder Kartenbesitzer wusste um das Absagerisiko, aber alle verziehen ihm alles. Ihn tatsächlich einmal leibhaftig hören zu können – ja zu dürfen – , war jedes Risiko wert!
Wer aber ist nun der Mensch hinter all den Bildern, die sich für immer im kollektiven musikologischen Gedächtnis eingeprägt haben? Dieser Frage ging das Autorenteam Syrthos J. Dreher (er verstarb noch vor Erscheinen der DVD-Dokumentation am 24. Juni 2019) und Dag Freyer in einer akribischen Dokumentation nach, die einen Zeitraum von mehr als drei Jahrzehnten umfasst. Zu keinem Zeitpunkt haben sich die Autoren der Illusion hingegeben, sie könnten dabei ein unbekanntes Geheimnis zu Tage fördern oder gar die Persönlichkeit des Künstlers dechiffrieren – das war nie ihre Absicht und lag auch außerhalb ihrer analytischen Möglichkeiten.
Es ging ihnen vielmehr darum, historisch Passiertes dokumentarisch darzustellen und in der persönlichen Begegnung mit Zeitzeugen zu reflektieren. Dabei griffen sie auf umfängliches Bild- und Filmmaterial zurück, das teilweise ohne Wissen Arturo Benedetti Michelangelis mitgeschnitten worden war und sich nun als Kostbarkeit entpuppte. So entstand ein vielfältigeres Bild dieser Künstlerpersönlichkeit, die unverändert rätselhaft bleibt, aber zusätzliche Facetten aufscheinen lässt. Herausgekommen ist eine absolut sehenswerte Dokumentation, die anrührt und fasziniert und uns vor Augen führt, was die Musikwelt hervorzubringen imstande ist.
Eine große und lange Wegstrecke an Arturo Benedetti Michelangelis Seite befand sich der gelernte Dirigent und Produktionsleiter der Deutschen Grammophon Cord Garben. Dessen persönliche Beziehung zu ABM steht im Mittelpunkt der Dokumentation, die sich wie mit einem Zeitrahmen versehen um das denkwürdige Konzert am 5. Juni 1992 im Münchner Gasteig durch die Ereigniskette arbeitet. Das aus Anlass des 80. Geburtstag Sergiu Celibidaches stattfindende Konzert (Ravel, Klavierkonzert in G-Dur) nahm einen unheilvollen Verlauf, der in allen Details ausführlich in der Dokumentation dargestellt ist.
Arturo Benedetti Michelangeli, der am 17. Oktober 1988 bei einem Konzertabend in Bordeaux am Flügel mit einem Herzinfarkt zusammengebrochen war und nur durch Soforthilfe zweier zufällig anwesender Ärzte und eine mehrstündige Notoperation dieses Ereignis überlebt hatte, war bereits 1989 wieder aufgetreten, doch zeigte er sich nach allen Seiten hin von einer ständig zunehmenden Verunsicherung und wachsenden Empfindlichkeit, die seinen Kontrollzwang immer weiter nach oben schraubten. Das besagte Konzert in München sollte für die Nachwelt mitgeschnitten werden, doch dazu kam es nicht.
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Der ständig finster dreinblickende, fast nie lächelnde Kettenraucher mit einer Vorliebe für schnelle Ferraris und Mickey-Mouse-Comics hatte sich bereits 1968 in die Schweiz zurückgezogen, nachdem der italienische Staat wegen einer geschäftlichen Pleite eines CD-Verlages zwei Konzertflügel hatte pfänden lassen. Er trat deshalb nicht mehr in Italien auf, lediglich im Vatikan, wo einige der faszinierendsten Konzertmitschnitte entstanden.
Über sein Privatleben ist wenig bekannt. Kaum jemand weiss, dass ihn eine jahrzehntelange Freundschaft mit dem Coro della S.A.T. verband, einem Trentiner Bergsteigerchor, für den er sogar einige Lieder-Arrangements erstellte. In dieser Gemeinschaft fühlte er sich tief verwurzelt.
In den letzten Jahren engagierte er sich, alles aus seinem Haus in Pura, Tessin, heraus, als Lehrer und gab Master Classes, wobei er kein Honorar nahm und Kost und Logis für seine Schüler und Schülerinnen übernahm. Zu seinen Schülern und geförderten Pianisten gehörten Vladimir Ashkenazy, dessen Familie heute sein Haus bewohnt, und auch Martha Argerich.
Arturo Benedetti Michelangeli starb in seinem Haus am 12. Juni 1995 im Alter von 75 Jahren.
DVD-Fazit: Diese Dokumentation ist spannend und informativ. Mich hat sie dazu animiert, weitere Recherchen anzustellen, bei denen ich auf sehr viel versöhnlichere Züge der Persönlichkeit Arturo Benedetti Michelangelis gestoßen bin. Hinter seiner empfindsamen äußeren Haltung steckte durchaus ein sensibler und einfühlsamer Mensch. Manchmal entsteht bei mir der Eindruck, als habe er sich stets vorrangig darum bemüht, das Werk vor jeglicher Art banalisierender Profanität durch einen unangemessenen Vortrag zu schützen, quasi eine Art „Entweihung“ durch Beliebigkeit der Interpretation zu verhindern. Seine Interpretationen sollten Referenzcharakter haben, er wollte so nahe an die Perfektion herankommen, dass er sich damit dem Werk gegenüber als würdig erweisen könnte. Doch das ist nur eine meiner möglichen, höchst subjektiven und damit unzureichenden Deutungswege, von denen es sicher viele andere gibt.
Dass er sogar lächeln und sich unter Menschen wohl fühlen konnte, zeigte sich im Umgang mit seinen Schülern. Und er ließ es sich überhaupt nicht nehmen, Taufpate bei der Geburt des Sohnes Michelangelo seines Klavierstimmers Angelo Fabbrini zu werden.
Immer dann also, wenn wir meinen, alles zu wissen, sollten wir unmittelbar weitersuchen.
Dr. Holger Voigt, 25. November 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
DVD-Rezension: Pietro Antonio Cesti, La Dori, Accademia Bizantina, Ottavio Dantone
Darsteller/Mitwirkende: Arturo Benedetti Michelangeli, Cord Garben, Sergiu Celibidache, Angelo Fabbrini, Contessa Marcella di Pontello, Duilio Courir, Harry Chin, Rodney Greenberg, Vladimir Ashkenaty, Vovka Askkenazy, Thórunn Jóhannsdòttir Ashkenazy, Mauro Pedrotti, Coro della S.A.T.