DVD-/Blue-Ray-Rezension:
Ludwig van Beethoven: „Missa solemnis“
Messe für vier Solostimmen, Chor und Orchester in D Dur, Op. 123
Großer Festsaal, Salzburger Festspiele 2021
Unitel Edition
von Dr. Holger Voigt
Was treibt Ludwig van Beethoven – alles andere als ein ausgewiesener Kirchenmusiker – dazu, auf einmal eine Messe zu komponieren? Zwar hatte er sich in jüngeren Lebensjahren durchaus mit den musikalischen Gattungsformen der Messe und des Chorgesanges beschäftigt und eine kleine Messe in C-Dur (Messe in C-Dur op. 86, 1807) sowie die Chorfantasie (Fantasie für Klavier, Chor und Orchester in c-Moll op. 80, 1808) verfasst – zwei Werke, an denen er belegen konnte, dass Messe und Oratorium ihm kompositorisch nicht fremd waren. Doch eine wirklich große Messe? Eine, die in einer Reihe mit der Bachschen „H-Moll-Messe“ stehen und bestehen könnte?
Und was bedeutete deren Grundlage – Religiosität – für ihn? Er war beileibe kein frommer Kirchgänger oder gar klerikaler Bibelchrist. Die katholische Liturgie lag ihm fern. Vieles am praktizierten Glauben schien ihm verlogen und manieriert, und kirchliche Rituale waren ihm wesensfremd. Gleichwohl war er tiefgläubig, und das sein ganzes Leben lang. Gott war der Haltegriff in seinem Lebens, und mit ihm befand er sich im fortwährenden Dialog. Wer Beethoven kennt, kann sich gut ausmalen, dass es dabei zuweilen auch recht laut zugehen konnte, doch seine Glaubenstreue war unverbrüchlich. Gott war ihm Adressat für das Schöne, aber auch das Finstere in seinem Leben – und davon gab es nicht gerade wenig. Er kämpfte nicht gegen, sondern mit Gott, und es gelang ihm – wie nur wenigen außer ihm –, diesen Kampf um das Schöne und Wahrhaftige in künstlerische Form zu fassen. Die „Missa solemnis“ ist diesbezüglich sein Meisterstück, sie ist sein Mikrokosmos.
Musikhistorisch ist die „Missa solemnis“ ein Auftragswerk zur Inthronisation von Erzherzog Rudolph (8. Januar 1788 – 24. Juli 1831), dessen Ernennung zum Bischof von Olmütz bevorstand. Ihm war Beethoven in tiefer Freundschaft und Dankbarkeit verbunden, war Rudolph doch einer seiner treuesten Förderer. Doch hätte die fertiggestellte Messe nur deshalb so gewaltig aussehen müssen? Wäre es für eine Zueignung nicht auch eine Nummer kleiner gegangen?
Vieles spricht dafür, dass die Motivlage, eine heilige Messe zu komponieren, einem inneren Wandel unterzogen worden war. Zeitlich fiel ihre Fertigstellung (1819 – 1823) in eine Lebensphase Beethovens, in der dieser schwersten inneren Belastungen ausgesetzt war. Wie fast immer in seinem Leben, war Beethovens Antwort auf derartige Lebensbelastungen stets eine schöpferische, kompositorische. In ihr versuchte er, das ihm zusetzende Schicksal einzufangen, um es dadurch verarbeitbar zu machen. So war es ja schon zuvor anlässlich des „Heiligenstädter Testaments“ gewesen, in welchem er die Erfahrung seiner zunehmenden Ertaubung artikulierte und damit zu einem Teil seiner Lebensorientierung machte, um mit ihr künstlerisch weiterleben zu können.
Nur auf dem Originalautograf der „Missa solemnis“ findet sich die Widmungszeile „Von Herzen. Möge es wieder zu Herzen gehen“. Adressat konnte also Erzherzog Rudolph nicht gewesen sein, sonst hätte Beethoven eine offene Widmungszeile mit Adressatenangabe verwendet. Wem also ist die „Missa solemnis“ mit dieser Zeile tatsächlich gewidmet? Wenn die Musik von Herzen kommt und wieder zu Herzen gehen möge, könnten damit schlechthin alle Menschen ganz allgemein gemeint sein, wie beispielsweise in der „Ode an die Freude“: „…alle Menschen werden Brüder…“. Das allerdings hätte er wörtlich konkret ausgeführt – warum auch nicht? Doch eine solche Widmung hätte man ja nicht auf das Original-Autograf beschränken müssen. Tatsächlich spricht vieles eher für eine andere Annahme.
1821 war Josephine Brunsvik (28. März 1779 – 31. März 1821), verwitwete Gräfin von Deym und Ehefrau von Freiherr Christoph Baron von Stackelberg, mit nur 42 Jahren verstorben. Sie war Beethovens „unsterbliche Geliebte“, über deren Existenz und Identität unablässig spekuliert wurde. Bei Eintreffen der Todesnachricht brach für Beethoven eine Welt zusammen, an seinen Aufzeichnungen und Kompositionen unzweideutig zu erkennen. Wenn man die „Missa solemnis“ mit dem Herzen hört, so wie sich die Widmungszeile auffassen lässt, wird man in der Musik immer wieder den Bezug zu Josephine entdecken können. In verklärter Form drückt Beethoven aus, dass seine Liebe über den Tod hinausreicht, ihn überdauert und weiter präsent ist. Insofern ist die „Missa solemnis“ Beethovens musikalisches Denkmal für Josephine Brunsvik. Seine Liebe zu Josephine, nun nicht mehr im Diesseitigen lebbar, geht in dieser Komposition auf in eine universelle Menschenliebe, deren musikalischer Ausdruck dann später in der 9. Symphonie zum Tragen kommt, in der es auch direkte Rückbezüge zu Josephine von Brunsvik gibt (der gesamte 3. Satz, Adagio molto e cantabile, ist nichts anderes als ein virtuelles Gespräch mit Josephine).
In der nun allgemeinen Liebe vereinigt sich die Gottesliebe mit der Menschenliebe: „Pleni sunt coeli et terra gloria tua.“ – sie transzendiert. Und noch einmal holt Beethoven Josephine in die Wirklichkeit zurück und widmet ihr im „Benedictus“ ein anrührend schönes Violinsolo, das gleichsam vom Himmel herabzuschweben scheint. In dieser Einspielung stockt einem fast der Atem, diesen Höhepunkt entstehen zu sehen, meisterlich gespielt vom Konzertmeister der Wiener Philharmoniker Rainer Honeck. Nirgendwo anders findet sich Derartiges in einer Messe. Tief angerührt dankt Riccardo Muti mit einer kurzen nickenden Kopfgeste dem Solisten.
Riccardo Muti hat sich über viele Jahre aus tiefempfundenen Respekt vor dem Werk gescheut, die „Missa solemnis“ zur Aufführung zu bringen. Es spricht vieles dafür, dass er diesem Werk in seiner emotionale Dichte nicht meinte, gerecht werden zu können. Erst in der Rückzugzeit während der Corona-Pandemie fand er die erforderliche Grundstimmung, sich diesem gigantischen Werk erneut zu nähern. Sein Entschluss, es bei den Salzburger Festspielen 2021 zur Aufführung zu bringen, ist ein Glücksfall. Hier also war sie, die „Missa universalis“, die alles beleuchtet und vereinigt.
Die vorliegende DVD/Blu-ray zeichnet sich durch eine brillante Aufzeichnungstechnik aus, die ein Qualitätsmerkmal für die major/United Produktionsserien ist (Video Director: Michael Beyer). Hier stimmt einfach alles: Umwerfender Klang, perfekter Bildschnitt – stets das Richtige im Bild –, sensibler Umschnitt, begeisternde Detailansichten und vieles mehr. Dem Zuschauer bietet sich die Gelegenheit, hautnah bei den Instrumentengruppen zu verweile. Insbesondere das Dirigat Riccardo Mutis ist in atemberaubenden Einstellungen eingefangen, man sitzt quasi direkt vor ihm. Alle Nuancen seiner Arbeit sind bis in das kleinste Detail und die kleinste emotionale Geste zu beobachten und ringen dem Betrachter allergrößte Bewunderung ab.
Ein perfekt einstudierter Chor der Musikvereinigung Wiener Staatsopernchor (Leitung: Ernst Raffelsberger) bildet das vokale Gerüst, in welchem sich alles andere in vielfältigster Weise entfalten kann. Alles kommt dank Mutis Dirigat so punktgenau und ausdrucksstark, dass allein dieses Merkmal bereits die große Anlage eines überwältigenden Werkes hervorheben lässt. Absoluter Höhepunkt: Das umwerfende „Gloria“, in welchem Beethoven im Anschluss an zahlreich wiederholte „Amen“-Bekundungen unter abrupter Temposteigerung nunmehr mit dem Begriff „Gloria“ fortfährt, den er sinnbildlich aus allen Richtungen kommend durch den Raum wirft, bis dann urplötzlich das letzte „Gloria“ am virtuellen Himmel kleben zu bleiben scheint, als wolle es als Fanal ewig sichtbar bleiben. Blitzartig herrscht nachhallende Stille – diese Botschaft gilt! Bei diesem letzten „Gloria“ taucht Riccardo Muti blitzartig weg, als ob er Platz für die Stille machen wolle. Tiefste Betroffenheit im Publikum. Das ist einfach grandios!
Über die Qualität der Wiener Philharmoniker braucht man keine Aussagen mehr anzustellen. Sie wissen am besten, welcher Klang dem Werk angemessene ist und überraschen nichtsdestotrotz dadurch, dass es tatsächlich immer noch besser klingt als erwartet. Die tiefberührende Wärme der Streicher, die nie zu dominierende transparente Dynamik von Bläsern und Holzbläsern und die dramatischen Wendungen unter Einsatz der Schlaginstrumente – all dieses ist so fein abgestimmt, dass es einem pure Klangfreude bereitet.
Inmitten (auch tatsächlich bezüglich ihrer Stellpositionen) singen Rosa Feola (Sopran), Alisa Kolosova (Alt), Dmitry Korchak (Tenor) und Ildar Abdrazakov (Bass) die von Beethoven geradezu instrumental ausgelegten Solopartien in bestechender Schönheit, Ausdrucksstärke und Klangqualität, nur selten an Sprachdeutlichkeit mangelnd, wenn der mächtige Chor ihre Stimmen kraftvoll „umsingt“. Aus meiner Sicht herauszuheben ist die Sopranistin Rosa Feola, deren glasklare und schön geführte Stimme einen zentralen Ankerpunkt der Aufführung darstellt.
Eine wunderbare Produktion mit Referenzwert.
Ludwig van Beethoven (1770-1827)
„Missa solemnis“
Messe für vier Solostimmen, Chor und Orchester in D Dur, Op. 123
Rosa Feola, Sopran
Alisa Kolosova, Alt
Dmitry Mitry Korchak, Tenor
Ildar Abdrazakov, Bass
Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor
Leitung: Ernst Raffelsberger
Wiener Philharmoniker
Musikalische Leitung: Riccardo Muti
Konzertmeister und Violinsolo: Rainer Honeck
Video Director: Michael Beyer
Dr. Holger Voigt, 1. September 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Ludwig van Beethoven, Missa Solemnis Philharmonie Berlin, 31. August 2022