Die Nacht vor Weihnachten, die keiner vergisst!

DVD-Rezension: Nikolay Rimski-Korsakow, Christmas Eve  klassik-begeistert.de 26. Oktober 2022

Christoph Loys bemerkenswerte Produktion von Rimski-Korsakows Werk an der Oper Frankfurt wurde von der Zeitschrift OPERNWELT als Aufführung des Jahres ausgezeichnet und erscheint jetzt auf DVD.

von Dr. Lorenz Kerscher

Auf das Stichwort „Märchenoper“ denkt man im deutschsprachigen Raum fast nur an Humperdincks Hänsel und Gretel, ein Werk, das in der Adventszeit die Spielpläne unserer Theater dominiert und manchmal sogar in zwei Schichten am Tag aufgeführt wird. Dass Nikolai Rimski-Korsakow (1844 – 1908) ein gutes Dutzend Märchenopern geschrieben und mit ebensoviel Tiefgang wie Klangpoesie ausgestattet hat, wird dagegen kaum wahrgenommen. Immerhin findet man Wesentliches aus seinem Schaffen als Aufzeichnungen meist russischer Produktionen in YouTube. Und nun kann man es der Oper Frankfurt gar nicht hoch genug anrechnen, dass sie zu Weihnachten 2021 eines dieser Werke auf die Bühne gebracht und nun als DVD unvergesslich gemacht hat.

 

Trailer zu »Die Nacht vor Weihnachten« von Nikolai A. Rimski-Korsakow | Oper Frankfurt

Die Regie führte Christof Loy, der sein Konzept in einem im Begleitheft abgedruckten Interview erläutert. „Gerade weil das Werk unbekannt ist, finde ich es wichtig, ihm zunächst einmal in seinem Kern nahezukommen“, bekundet er. Das gelingt ihm trotz der Komplexität unterschiedlicher, ineinander verwobener Handlungsebenen, die in der normalen Menschenwelt, dem Reich von Geistern und Hexen und im Mythos um die Wintersonnenwende liegen.

So sei es ihm ganz besonders gedankt, dass er auf regietheaterübliche Selbstdarstellung verzichtet und seine Arbeit ganz in den Dienst des Werkes stellt! Die Handlung ist im Booklet ausführlich beschrieben, und anhand der in verschiedenen Sprachen auswählbaren Untertitel kann man dem Fortgang der Geschichte gut folgen. Das Leben der Menschen findet, meist komödiantisch gezeichnet, auf dem Boden statt, während die Hexe, der Teufel und der Frühlingsgott selbstverständlich durch die Lüfte fliegen können. Dabei leitet sich das Bühnenbild überwiegend von einem in vielen Variationen gezeigten Sternenhimmel ab, an dem der Mond des Öfteren prominent in Erscheinung tritt.

Zu Beginn blicken wir auf einen Himmelsausschnitt mit Sternen, Mond und Spiralgalaxien, während in den Einleitungstakten klare Dur-Akkorde erklingen, die in wechselnden Klangfarben durch terzverwandte Tonarten modulieren. Den Klangzauber des unvergleichlichen Instrumentationskünstlers Rimski-Korsakow nachzuzeichnen, ist dann weiterhin eine Aufgabe, der das Frankfurter Opern- und Museumsorchester unter Sebastian Weigle aufs Beste gerecht wird. Die wohlklingende Harmonie der Welt verschwindet schnell, wenn die Hexe Solocha und der Teufel aufeinander treffen und beschließen, Mond und Sterne vom Himmel zu stehlen und einen Schneesturm über das Land zu schicken, um Solochas Sohn Wakula am Besuch der angebeteten Oksana zu hindern. So verschwindet die Himmelsdekoration, tänzerisch dargestellte Naturgewalten bringen die Menschen von ihrem Weg ab und stiften Verwirrung: die Komödie kann ihren Lauf nehmen.

Der Schmied Wakula, ein kraftstrotzender und im christlichen Glauben aufrechter junger Mann, ist die zentrale Gestalt der Oper. Georgy Vasiliev bringt für ihn eine wandlungsfähige und kraftvolle Tenorstimme mit und seine Bühnenpräsenz strahlt große Entschlusskraft aus. Gegen den hünenhaften, aber einfältigen Bauern Chub, dem Alexey Tikhomirov seine klangvolle Basstimme leiht, setzt er sich schon eingangs ohne Mühe durch. Ratlos ist er jedoch gegenüber der abweisenden Haltung von dessen Tochter, der angebeteten Oksana. Diese ist bildschön, aber zunächst einmal ein eitles und selbstverliebtes Geschöpf. Während die anderen Protagonisten winterliche Alltagskleidung tragen, will sie mit einem folkloristisch bestickten weißen Kleid, roten hochhackigen Schuhen und einem roten Mantel etwas Besonderes sein. Die zum Zeitpunkt der Aufnahme 27-jährige Julia Muzychenko, die hier im Blog kürzlich schon als vielversprechenden Rising Star vorgestellt wurde, erweist sich nicht nur äußerlich, sondern auch mit den Möglichkeiten ihrer schönen und klaren Sopranstimme als ideale Besetzung. Zunächst wird koloraturensichere Perfektion zum Ausdrucksmittel ihrer Gefühlskälte gegenüber Wakula. Für kurze Momente scheinen ihr seine Komplimente zwar zu gefallen und doch führt sie ihn spöttisch an der Nase herum. So kommen der geradeheraus gestrickte Schmied und die launische, die Schuhe der Zarin als Brautgabe fordernde Schöne erst einmal nicht zusammen und ihre fröhlichen Freundinnen kommen mit dazu gesungenen Weihnachtsliedern seinem Werben in die Quere.

Die Komödie nimmt ihren Fortgang in Solochas Stube, wo nacheinander der Teufel und ihre anderen Verehrer eintreffen und sich mit Schnaps und Streicheleinheiten versorgen lassen. Die Mezzosopranistin Enkelejda Shkoza überzeugt hier mit einer köstlichen Charakterstudie der in die Jahre gekommenen Femme fatale. Einer nach dem anderen müssen sich die Liebhaber dann in Kohlesäcken verstecken. Dass diese Schlitze für Kopf und Arme haben und die Versteckten noch wild gestikulieren können, treibt die Absurdität der Szene auf die Spitze. Am Ende schleppt Wakula die unordentlich herumliegenden Säcke nach draußen, wo in einer fröhlichen Massenszene die Weihnachtslieder singenden Menschen zur großen Erheiterung die Honoratioren des Dorfs in den Säcken entdecken und Wakula sich nach nochmaligem Spott Oksanas verbittert auf Nimmerwiedersehen verabschiedet.

Nun folgt im dritten Akt der bei Rimski-Korsakow unvermeidliche Ausflug in Geister- und Phantasiewelten und stellt damit der Regie eine besondere Aufgabe. Wie löst das Christof Loy? Den unheimlichen Zauberer Patsjuk, den Wakula nach dem Weg zum Teufel fragt, setzt er als Puppengestalt mit Riesenkopf in einen Bilderrahmen, wo er von einer Sklavin gefüttert wird. Von diesem kommt lediglich der Hinweis, dass der Gesuchte sich in dem mitgeführten Sack befindet, in dem der Schmied sein Werkzeug vermutete, während sich tatsächlich der Teufel darin versteckt hatte. Dieser ist gar nicht so unsympathisch und wird von dem Charaktertenor Andrei Popov trefflich dargestellt und gesungen – und auch geturnt! Nun muss er unter dem Bann des Kreuzzeichens Wakula durch die Lüfte zur Zarin tragen. In diese fantastische Reise hineinverwoben ist der als Ballett dargestellte Mythos vom Frühlingsgott, der herniedersteigt, um sich mit der Jungfrau Koljada zu vereinigen und damit die Sonnwende zu ermöglichen. Doch zunächst muss in dieser Gestalt die elegante Solotänzerin Ayelet Polne mit einem tapsigen Bären tanzen, dann kommen ihr böse Geister mit wildem Gebaren in die Quere. Hier bringt Christof Loy nun Oksana auf die Bühne und lässt sie diese Bedrängnis albtraumhaft erleben, wobei Julia Muzychenko auch großes tänzerisches Können unter Beweis stellt. Der Spuk endet, als Wakula mit dem Teufel über die Szene fliegt und Oksana sehnsüchtig die Arme nach oben reckt. So kommt plausibel der innere Kampf zum Ausdruck, der die spröde Schöne zur liebenden Braut werden lässt. Dieser Ausschnitt wurde in YouTube veröffentlicht:

 

Nikolay Rimsky-Korsakov: Christmas Eve (Diabolic Kolyadka: Assemble, sorcerers)

Der Flug zum Palast der Zarin ist als Zeitreise dargestellt und Wakula trifft dort auf eine Gesellschaft, die in historischen Gewändern eine prunkvolle Polonaise tanzt. Die Mezzosopranistin Bianca Andrews stellt eine sehr charmante Zarin dar, die an dem geradlinigen jungen Schmied solchen Gefallen findet, dass sie sein Anliegen anhört und ihm ihre schönsten goldenen Schuhe für seine Braut mitgibt. Während er den Teufel zum Rückflug antreibt, steigt der Frühlingsgott vom Himmel und findet mit Koljada zusammen. Die Sonnenwende ist vollzogen und die Menschen preisen das sich ankündigende Licht der Wahrheit mit feierlichen Gesängen als wirkungsvollem Schlusspunkt.

Im vierten Akt ist Oksana immer noch die schön gekleidete Tochter des reichsten Bauern, doch sie erwacht aus ihrem Albtraum mit einer anderen Einstellung. Gerüchte, der Schmied habe sich das Leben genommen, machen ihr Angst und auf einmal spürt sie, wie sehr sie den vormals Verspotteten liebt. Nun hat Julia Muzychenko auch eine schöne lyrische Wärme zur Verfügung, um diesen Sinneswandel zu beglaubigen. Und als Wakula unverhofft zurückkehrt um ihre Hand anhält, kann sie ihm glaubhaft versichern, dass sie gar nicht die Schuhe, sondern nur ihn haben möchte. Die Dorfbewohner kommen hinzu und wollen wissen, wie die Reise zur Zarin abgelaufen ist. Doch Wakula will nichts dazu sagen, sondern möchte es dem Dichter Nikolai Gogol überlassen, die Geschichte zu erzählen.

 

Nikolay Rimsky-Korsakov – Christmas Eve (Christof Loy / Oper Frankfurt) – Ausschnitte

So ist es gekommen, dass keiner diese Nacht vor Weihnachten vergisst, denn sie ist zu einer beliebten Märchenerzählung geworden. Und nun hat man in Frankfurt auch Rimski-Korsakows optimistische Oper mit ihren schönen, zum Teil der ukrainischen Folklore entliehenen Melodien dem Vergessen entrissen. Zu Hilfe kam dabei noch die Auszeichnung als Aufführung des Jahres im Jahrbuch 2022 der Zeitschrift Opernwelt und noch mehr die nun neu erschienene DVD. Mögen viele Menschen Freude daran haben und andere Bühnen die Anregung aufnehmen, häufiger Werke von Rimski-Korsakow aufzuführen! Und falls jemand ein schönes Weihnachtsgeschenk für einen aufgeschlossenen Opernfreund sucht: hier ist es!

Dr. Lorenz Kerscher, 26. Oktober 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Weiterführende Information:

Einführungsvortrag als Video

Beschreibung der Oper in Wikipedia

Beschreibung von Nikolai Gogols Märchen in Wikipedia

Bestellmöglichkeit bei jpc

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