Waldbühne © ZDF/Jule Roehr
„Eine europäische Nacht“
Wiener Philharmoniker
Riccardo Muti, Dirigent
Berliner Waldbühne, 9. Mai 2024
von Kirsten Liese
In die Berliner Waldbühne und überhaupt in Konzerte unter freiem Himmel mit akustischer Verstärkung verirre ich mich eher selten, obwohl ich nach diesem Abend zugeben muss, dass die Akustik in dem Amphitheater, das bis zu 20 000 Zuschauern Platz bietet, besser war als erhofft. Einen Auftritt von Riccardo Muti und den Wiener Philharmonikern an diesem Ort lasse ich mir freilich nicht entgehen.
Und staune allein schon über die enormen physischen Kräfte des Maestros, der eben noch an vier Tagen Beethovens Neunte im Wiener Musikverein dirigierte und am Rande sogar noch für das Waldbühnen-Konzert probte! Dirigenten über 80, die ein solches Pensum mit einem vergleichbaren Elan meistern, gibt es wahrlich nicht allzu viele. Und damit ist die große Sause mit den Wienern und Muti noch längst nicht zu Ende, die sich in Italien mit einem Mozart-Schubert-Programm fortsetzt.
Auch Mutis Sache sind Freilichtauftritte eigentlich nicht. Und wäre dies nicht der Auftakt der Tournee mit den Wienern gewesen, die sich am Europatag auch erstmals in der Berliner Waldbühne präsentierten, hätte er sich womöglich auf ein solches Abenteuer nicht eingelassen. Ungeachtet dessen, dass der Produzent dieses Konzerts, das ZDF, beschämend ein Fingerspitzengefühl für den Maestro vermissen ließ, der in der Regel keine Kompromisse in der Kunst zulässt: Bestenfalls überflüssig, schlimmstenfalls ärgerlich, erschienen die teils in grellen Bonbonfarben gehaltenen Videoanimationen zur optischen Untermalung. Liebe Veranstalter: Der Regie-Unsinn an den Opernhäusern ist schon ärgerlich genug, bitte dehnt die optische Reizüberflutung nicht noch auf den Konzertbereich aus!
Das Rezept jedenfalls für dieses betörende Miteinander-Musizieren von Muti und den Wienern ließ sich schnell ausmachen: Es ist die enge Verbundenheit zwischen Orchester und Dirigent. die mehr als 50 Jahre miteinander zusammen arbeiten. Man merkt es allen Beteiligten an, wie eingeschworen sie aufeinander sind, wie sie sich gegenseitig beflügeln. Es ist eine große Freude, das zu erleben!
Zum Glück wirkte sich die akustische Verstärkung, die in Anbetracht der Riesentribünen unentbehrlich erscheint, nur auf die Ouvertüre aus Verdis Oper La forza del destino aus, einzelne Bläsersoli tönten leicht übersteuert aus den Boxen. Ansonsten aber behaupteten die Wiener ihre Spitzenklasse in Suiten, Rhapsodien und Tänzen von de Falla, Chabrier, Brahms und Dvořák gleichermaßen mit denkbar größter Verve und lyrischem Feinsinn, vor allem in Griegs Morgenstimmung, in der die Holzbläser der Reihe nach berührend zärtlich das liebliche Thema anstimmten.
Das Programm mit populären, überwiegend sehr bekannten schwungvollen Melodien und fetzigen Rhythmen mag Erinnerungen an Wunschkonzerte im Radio wecken, aber mit ihren trefflichen, betörend frischen Wiedergaben bewegten sich die Wiener und Muti selbstredend in einer ganz anderen Liga. Was wieder einmal zeigte, dass geniale Musik sich nie zu Tode läuft, es kommt immer auf die Interpretation an!
Ans Ende seiner „europäischen Nacht“ setzte Muti ein längeres sinfonisches Werk seiner italienischen Heimat: Bis in die Tiefen der Katakomben hinein lotete er Respighis Pini di Roma in feinsten Nuancen aus. Dass sich außer dem Nachtigallengesang – vom Komponist als Tonaufnahme in seine Partitur eingebracht – liebliches Zwitschern von echten Vögeln aus den umliegenden Bäumen in die farbenreich instrumentierte Dichtung mischte, bescherte der Wiedergabe einen ganz eigenen Charme.
Mit Johann Strauß’ Kaiserwalzer , einem Paradestück der Wiener, das kein anderes Orchester zwischen Anflügen von Melancholie, Zärtlichkeit, fein ziselierten Übergängen bis hin zum großen Rausch derart delikat darzubieten versteht mit seinem unverwechselbaren lasziv-goldenen Streicherklang, und der Europahymne (mit dem Götterfunken-Thema aus Beethovens Neunter) gab es nach stehenden Ovationen noch zwei köstliche Bonbons als Zugabe.
Schade, dass Muti in meiner Berliner Heimat so selten zu erleben ist, man würde doch gerne so viel mehr von ihm hören. Besonders schön wäre es freilich, wenn er hier einmal eine italienische Opernakademie für Nachwuchsdirigenten und –sänger abhalten könnte. Wie mir zu Ohren kam, wäre der Maestro gar nicht so abgeneigt, es müssten dafür nur Sponsoren gefunden werden…
PS: Das ZDF strahlt am 12. Mai um 22:15 Uhr Ausschnitte aus diesem Konzert aus. Das ganze Konzert sendet arte am 25. Mai ab 20:15 Uhr.
Kirsten Liese, 12. mai 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Programm
Giuseppe Verdi: Ouvertüre zur Oper „La forza del destino“
Manuel de Falla: Suite Nr. 2 aus „El sombrero de tres picos“
Emmanuel Chabrier: España. Rhapsodie für Orchester
Johannes Brahms: Ungarischer Tanz Nr. 1 in g-Moll und Ungarischer Tanz Nr. 4 in fis-Moll [Bearb. Paul Juon]
Edvard Grieg: Morgenstimmung, aus Peer-Gynt-Suite Nr. 1, op. 46
Antonín Dvořák: Slawischer Tanz in C-Dur, op. 46/1
Ottorino Respighi: Pini di Roma