Neubrandenburg © Jakob Regin
Das begeisterte Publikum dankte mit langanhaltendem Beifall den Mitwirkenden für eine hervorragende Gesamtleistung.
Was können wir Deutschen doch froh sein, unseren Einheitstag mit der wundervollen Musik eines großen Franzosen begehen zu dürfen!
Johannes Brahms, Variationen über ein Thema von Haydn op. 56a
Camille Saint-Saëns, Symphonie Nr. 3 c-Moll op. 78 („Orgelsymphonie”)
Daniel Geiss, Dirigent
Dietmar Hiller, Orgel
Neubrandenburger Philharmonie
Konzertkirche, Neubrandenburg, 3. Oktober 2023
von Dr. Andreas Ströbl
Kaum ein Ort eignet sich so sehr für eine Feier zur Deutschen Einheit wie die ehemalige Marienkirche in Neubrandenburg, die seit 2001 als Konzertkirche ein international wahrgenommener Aufführungsort ist.
Wie die ganze Stadt, ist die im Kern gotische Hallenkirche ein Zeugnis von Zerstörung, Gewalt und hoffnungsvollem Neubeginn und so lud Neubrandenburg am 3. Oktober 2023 nicht nur zur Einheitsfeier, sondern auch zum 775. Jubiläum der durch Kriege und Feuersbrünste mehrmals verwüsteten Stadt.
Sei die Assoziation mit dem aus der Asche neuentstandenen Phoenix auch nicht gerade neuartig, so entspricht sie doch gerade diesem Bau, in dem ein ungemein lebendiges und vielfältiges Kulturprogramm namhafte Künstlerinnen und Künstler aus ganz Europa und ein Publikum weit über die Region hinaus anzieht. Diese Bemerkung darf gerne als Empfehlung verstanden werden, sich einmal den Spielplan anzusehen und nach Mecklenburg zu fahren. Da sind auch Kompositionen zu hören, die man an anderen Häusern vergeblich sucht.
Nach einer engagierten Festrede des Oberbürgermeisters Silvio Witt, der die Musik als „magische Kraft“ gerade in Krisenzeiten pries, erhob sich das Publikum in der vollbesetzten Kirche zur Nationalhymne, die tatsächlich ein Teil der Anwesenden mitsang. Ob dies vor allem aus Neubrandenburger Kehlen klang oder ob auch Gäste von auswärts mittaten – zumindest in den Foyergesprächen waren sehr unterschiedliche Dialekte und Akzente zu hören.
Dem lichtdurchfluteten Raum entsprechend erklangen als erster Konzert-Programmpunkt in transluzider Wiedergabe Brahms’ Haydn-Variationen. Dem allzuoft gehörten Stück verlieh die Neubrandenburger Philharmonie unter Leitung von Daniel Geiss, ihrem neuen Generalmusikdirektor, eine neobarocke festliche Leichtigkeit; die einzelnen Variationen waren bemerkenswert differenziert gestaltet. Dem Thema, das wahrscheinlich gar nicht von Haydn stammte, das dieser aber eben verwendete und bekannt machte, widmeten sich gerade die Soloinstrumente bzw. Instrumentengruppen wie die Flöten, die Klarinette oder die hohen Streicher mit Hingabe – die Stückbezeichnung erhielt hier eine feine Deutung, denn die Variationen mit ihrem jeweils so unterschiedlichen Charakter arbeiteten Geiss und die Neubrandenburger mit Begeisterung und feinfühligem Verständnis für die Klangfarben, Dynamiken und Dur-Moll-Wechsel aus.
Die zarten Verästelungen der musikalischen Linien schienen klar gezeichnet wie Zweige im lichter werdenden Herbstlaub und Geiss beschränkte sein Dirigat mit klaren, unprätentiösen Weisungen auf das Wesentliche; sein Lächeln spiegelte sich deutlich auf einigen Gesichtern der Mitwirkenden.
Trotz des insgesamt schlanken Klangs breitete das Orchester doch eine warme Fülle aus und gerade die Tutti-Stellen gerieten kraftvoll und entschieden. Zum Finale verstärkte Geiss seine Armbewegungen und mit emporhebenden Gesten schien er den hoffnungsfrohen Ton aus dem Klangkörper schöpfen zu wollen. „Zugewandt“ in jeder Hinsicht – das trifft seine Haltung dem Orchester gegenüber wohl am besten.
Um ehrlich zu sein – die meisten Musikliebhaber waren wegen Saint-Saëns’ „Orgelsymphonie” gekommen und wurden nicht enttäuscht. „Ich habe in diesem Werk alles gegeben, was ich geben konnte. […] Was ich hier gemacht habe, werde ich nie wieder machen“, so der Komponist über das Auftragswerk der Londoner Royal Philharmonic Society, das 1886 uraufgeführt wurde. Der Beiname der Symphonie Nr. 3 c-Moll op. 78 ist etwas irreführend, denn die Orgel ist ein wesentlicher, aber eben nur partiell dominierender Bestandteil des Orchesterinstrumentariums. Es gibt im Kreis der Orgelfreunde Stimmen, die sich ihren Einsatz schon früher in dem zweisätzigen Werk wünschen, aber das ganze Stück spielt ja mit Vorbereitungen, Ahnungen und dem Aufbau von Spannung.
Das einleitende Crescendo zieht rasch aus einer scheinbaren Gemächlichkeit in die charakteristische, nach vorne strebende Dynamik, die die Symphonie prägt und ebendie machten die Neubrandenburger leidenschaftlich erlebbar, allerdings ohne zu hetzen. Das verstärkte die spannungsbildenden Elemente, wobei die Streicher als Motor fungierten und das ausgesprochen starke Blech den Ball umgehend aufnahm. Auch die Holzbläser spielten makellos, ganz leichte Rutscher in den Hörnern wichen bald einer kraftvollen Sicherheit.
Zauberhaft gestalteten die Streicher die Pizzicato-Stelle, in der sich die Töne gleichsam wie suchend durch die Nacht tasten, um dann der Orgel Platz zu machen. Das Klais-Schuke-Instrument mit seinem warmen, satten Klang passt ganz wundervoll zu diesem Werk, das durch das Zitat bzw. die Umarbeitung des Dies-Irae-Motivs zwar einen sakralen Schlenker macht, aber doch im Grunde sympathisch weltlich und sinnlich daherkommt. Dietmar Hiller entlockte der 2017 durch Iveta Apkalna in einem international beachteten Konzert eingeweihten Orgel exakt den fülligen Schmelz und den majestätischen Glanz, den die Partitur verlangt. Und es stand zu keinem Moment außer Zweifel, dass trotz des dominanten Klangs die „Königin der Instrumente“ sich harmonisch in das Ganze des Instrumentariums fügte.
Bedauerlicherweise zerklatschte ein Teil des Publikums die Pause zwischen den Sätzen; gerade den zarten Schluss des ersten hätte man doch mit Stille würdigen sollen.
Zu Beginn des Finalsatzes treten wiederum Streicher, Flöten und Holzbläser in eine reizvolle Interaktion, um sich dann gemeinsam zu steigern – das Klavier verstärkt die Bewegung mit raschen Läufen. Das Orchester verstand es, diese enorm spannungsreichen Wechsel souverän umzusetzen und zu den schönsten Stellen der Komposition gehört sicher die perlende vierhändige Aufnahme des Themas auf dem Klavier, golden schimmernd wie das Glitzern von Sonnenlicht auf bewegtem Wasser.
Daniel Geiss gab seinem Dirigat nun einen zunehmend entschiedeneren und bewegteren Duktus; in den Knien wippend und mit weiten Armführungen spornte er das Orchester mit froher Leidenschaft, aber immer eindeutigen Weisungen an.
Zum Finale nach der wirbelnden Fuge und erneuter Steigerung von Dynamik und Erweiterung der Instrumentierung durch Becken und Trommel brach dann doch noch eine eher sakrale Anmutung durch, als der Orgelklang sich in aller Größe erhob – Dietmar Hiller gab dem Schluss eine leuchtende Mächtigkeit, entsprechend der Anweisung „Maestoso“ und mit einem glanzvollen Aufbäumen endete das Werk in brausendem Klang.
Das begeisterte Publikum dankte mit langanhaltendem Beifall den Mitwirkenden für eine hervorragende Gesamtleistung.
Was können wir Deutschen doch froh sein, unseren Einheitstag mit der wundervollen Musik eines großen Franzosen begehen zu dürfen!
Dr. Andreas Ströbl, 5. Oktober 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Interview mit Hans Martin Gräbner von Dr. Andreas Ströbl klassik-begeistert.de, 13. August 2023
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