Frühbarock aus Spanien: wohlgemut, modern, enspannt

Ensemble Phoenix Munich, „Cancionero de la Sablonara“  Allerheiligen-Hofkirche der Residenz, München, 20. September 2020

Sechs Musiker bestreiten diesen Abend. Es ist ein – so empfinde ich es – fröhlicher, ausgelassener Abend.

Ensemble Phoenix Munich mit dem Programm „Cancionero de la Sablonara – spanische Musik am Hof Philipps IV. (1605–1665)“
Allerheiligen-Hofkirche der Residenz, München, 20. September 2020

Maria Andrea Parias – Sopran
Petra Noskaiová – Mezzosopran, Kastagnetten
Colin Balzer – Tenor, Holzblock-Percussion
Christoph Eglhuber – Barockgitarre, Theorbe, Percussion
Ryosuke Sakamoto – Viola da Gambe, Laute
Joel Frederiksen – Bass, Vihuela & Leitung

von Frank Heublein (Text und Foto)

Ich beginne mit etwas ganz Modernen: das Cancionero de la Sablonara soll vollständig digitalisiert werden. Gesichert und aufführbar für viele! Dieses Buch ist ein frühbarockliches weltliches Kompositionsbuch des spanisches Hofes im 17. Jahrhundert. Es steht im Zentrum der heutigen Aufführung und wird in der Münchner Staatsbibliothek aufbewahrt. Die Entstehung kann nicht exakt datiert werden, in etwa wird das Manuskript zwischen in den 1620ern oder 1630ern entstanden sein.

Warum ist es so wertvoll, einzigartig? Das hängt mit zwei Katastrophen zusammen: 1734 brannte das Stadtschloss der spanischen Könige, das Palacio Real in Madrid zum größten Teil ab, darunter: das Musikarchiv. Die Verwüstung durch das Erdbeben von Lissabon in 1755 zerstörte unter vielem anderem das bedeutende Musikarchiv des portugiesischen Königs Johann IV.. Dadurch wurden die meisten Abschriften der spanischen Hofmusik dieser Zeit vernichtet. Über die pfälzische Linie der Wittelsbacher gelangte die Abschrift spanischer Hofmusik nach München. Wolfgang Wilhelm besuchte den spanischen Hof des Philip IV. 1624 bis 25. Ihm wurde das Manuskript geschenkt. Ein Schatz! Der um die Ecke gelagert wird von Joel Frederiksen, der in München lebt und arbeitet.

75 Kompositionen, jede der vier, drei oder zwei Gesangsstimmen wird einzeln dargestellt – doch das wird in einem der instrumentalen Stücke des Konzerts besonders deutlich – ist die Verbindung des Frühbarocks – ist es noch Renaissance oder schon Barock? – zum modernen Jazz überwältigend. Wie man die Stimmen setzt, mit Instrumenten, mit Gesangsstimmen, das ist der Improvisation, der Inspiration des oder der Musiker überlassen. Das fasziniert mich immer wieder aufs Neue.

Sechs Musiker bestreiten diesen Abend. Es ist ein insgesamt – so empfinde ich es – fröhlicher, ausgelassener Abend. Obwohl textlich es doch durchaus nicht immer heiter zugeht, auch Wehmut und emotionaler Schmerz eine Rolle spielen. Das hängt stark mit Tenor Colin Balzer zusammen. Er scheint mir unglaubliche geradezu berstende Lust auf diesen Abend zu haben. Er strahlt eine besonders starke stimmliche Präsenz aus an diesem Abend.

Die meisten Lieder des Buches steuert der „el maestro Capitán“ genannte Mateo Romero bei. Der erste Höhepunkt für mich stammt aus seiner Feder: „Entre dos mansos arroyos“. Alle Musiker sind aktiv, Gambe, Theorbe, Vihuela (ein gitarrenähnliches Instrument), dazu alle vier Stimmen. Dem ersten gemeinsamen Part folgen Soli des Soprans, Mezzos und Tenors, um allsbald durch sehr fein aufeinander abgestimmtes durcheinander-zusammen-singen einen ersten gefühlten Glücksstrom in mir auslösen. Das Stück handelt von natürlich fließendem Wasser, dieser quere Strom wird musikalisch adäquat dargestellt und darin ein Mensch, der sich in der Natur verlassen und einsam fühlt.

Meine Lieblingsmusik, Teil 6: Das Stabat Mater von Pergolesi

Der zweite Teil (Jazzmusiker würden Set dazu sagen, Pausen gibt es in Coronazeiten keine) endet mit einem weiteren persönlichen Highlight in derselben Besetzung: Desiertos campos, árboles sombrios, dem keine kompositorische Zuschreibung vorliegt. Hier geht es um die Weite der Natur, die zugleich weitend und durch die Weite bedrückend ist. Kontemplativ endet das Stück mit einem Solo der Sopranistin Maria Andrea Parias. „Soi como leña verde que en la llama, a un mismo tiempo se consume y queja.“ (Ich bin wie frisches Holz in der Flamme, das klagt und sich zugleich verzehrt.) Diese unauflösbare Verbindung von Weite und Einsamkeit, das zitierte Bild des Holzes, diesen Konflikt singen und spielen die Musiker auf der Bühne ausdifferenziert und vereinnahmen mich damit ganz und gar.

Musikalisch begleitet werden die vier Stimmen im ersten Lied des dritten Teils von Laute und Erzlaute. „Burlóse la niña de amor“ (Das Mädchen flirtete mit der Liebe). Erst werden stimmlich Mezzosopran und Bass hervorgehoben. Dann wandert das Duett auf Sopran und Bass über. Die lebenspulsierende Heiterkeit des Stückes überträgt sich vom Gesang auf mich.

Auch das letzte Stück des dritten Teils beglückt mich zutiefst. „Lucinda, tos cavellos“ (Lucinda Deine Haare) von Juan de Torres. Wiederum eine volle Besetzung mit Gambe, Erzlaute und Vihuela. Die Instrumente gestalten den Zwischenteil ohne Gesang wunderbar zart und berührend. Alle vier Stimmen zeigen erneut die beeindruckende Harmonik der Musik und die wunderbare Abstimmung, das nahezu perfekte Miteinander der Stimmen. Diesem Liebeslied darf Tenor Colin Balzer dann in seinem Solo einen besonderen Stempel aufdrücken, seine Stimme ist kräftig, klar, unangestrengt. Einfach toll!

Mit einem weiteren Liebeslied beginnt der vierte Teil. Die Ausnahme des Abends (bis auf die Zugabe). Ein Stück, das zum vorgestellten Liederbuch hervorragend passt, aber eben nicht auf diesem stammt. Zugleich ein solistisches Paradelied für Bassist Joel Frederiksen ist. Er zeigt die ganze emotionale Bandbreite, die in seiner Stimme steckt. Leise zärtlich bis kraftvoll sonor. Ich glaube ihm seine treue Liebe in „Digame un requiebro“ (Sag mir ein süßes Nichts) von Juan Arañés mit jedem Ton!

„Bullicioso y claro arroyuelo“ (Plätscherndes klares Bächlein) des bereits erwähnten Capitán zeigt ein weiteres Mal die wunderbare auch technisch brillante Harmonie zwischen Tenor und Bass, die mich fasziniert meine sonstige Umgebung vergessen lässt, so sehr umfängt mich dieses Duett.

Die Atmosphäre der (weltlichen) Allerheiligen Hofkirche der Münchner Residenz bildet einen wunderbaren Rahmen für diesen Abend auf sehr hohem musikalischen instrumentalen wie stimmlichen Niveau, das mein barockes Herz mit jedem Lied noch ein bisschen höherhüpfen lässt. Das Ensemble Phoenix Munich lässt mich meine komplette Klaviatur der Gefühle durch Ihre Musik durchschreiten und erleben. Welch erfüllter Abend.

Frank Heublein, 25. September 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

2 Gedanken zu „Ensemble Phoenix Munich, „Cancionero de la Sablonara“
Allerheiligen-Hofkirche der Residenz, München, 20. September 2020“

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