John Neumeier mit seinem Ensemble (Asmik Grigorian, Matias Oberlin, Caspar Sasse, Anna Laudere, David Fray, Jacopo Bellussi, Madoka Sugai, Alina Cojocaru, Alexandr Trusch, Louis Musin, Silvia Azzoni, Alessandro Frola und Christopher Evans) (Foto: RW)
Als Caspar Sasse schließlich John Neumeier auf die Bühne holte, sprang das begeistert applaudierende Publikum unisono auf, also nicht nur im Parkett, sondern, soweit ich sehen konnte, auch in den Rängen. So wurde John Neumeier die Ehre für seine jüngste Ballett-Kreation erwiesen.
Epilog, Ballett von John Neumeier
Musik von Franz Schubert, Simon & Garfunkel sowie Richard Strauss
Choreographie und Bühnenbild: John Neumeier
Kostüme: Albert Kriemler
Filme: Kiran West
Klavier: David Fray, Emmanuel Christien, Sopran: Asmik Grigorian
Hamburg Ballett, Uraufführung, 30. Juni 2024
von Dr. Ralf Wegner
Der Orchestergraben war zwecks Erweiterung der Tanzfläche abgedeckt. Links stand ein Flügel; dort nahm der Pianist David Fray Platz. Auf der Tanzfläche lag nur ein gekippter Stuhl. Der sich öffnende Bühnenvorhang gab den Blick auf ein mehrgeschossiges, nach vorn und rechts offenes, turmartiges Holzgerüst frei. Im ersten Stock war ein langer, weit in die Tiefe reichender Gang zu sehen. Von dort näherte sich langsam ein Tänzer, der schließlich eine Etage tiefer durch die Tür schritt.
Nun sah man es, bei dem langen Gang handelte es sich um eine filmische Projektion, die im Nachhinein einen Geburtskanal assoziieren ließ. Als Tänzer erschien der 20-jährige Hamburger Caspar Sasse. Der schlanke, hochgewachsene junge Mann tanzte mit noblem Ausdruck und imponierte mit seiner Sprungkraft. Wie in anderen Balletten Erste Solisten (Edvin Revazov in Dritte Sinfonie von Gustav Mahler oder Aleix Martínez in Dona Nobis Pacem) trug der noch als Aspirant firmierende Tänzer als zentrale verbindende Figur mit großer Überzeugungskraft entscheidend zum Gelingen des Balletts bei.
Gegen Ende der Aufführung wurde der Holzturm wieder nach vorn auf die Bühne geschoben und die verbliebenen Ensemblemitglieder verließen den Ort des Geschehens durch dieselbe Tür. Als letztes Caspar Sasse, der dabei ob seiner Größe den Kopf einziehen musste. Die Bühne wurde dunkel, von hinten drang nur noch Scheinwerferlicht durch die Pforte und hinterließ nach vorn die Projektion eines langen Weges in das Jenseits. Der Lebenskreis hatte sich geschlossen.
Was passierte dazwischen, zwischen Geburt und Tod. Es war das pralle Leben, beginnend mit einer häuslichen Familien-Szene, analog jener aus Neumeiers Die Glasmenagerie. Anna Laudere, Matias Oberlin, Artem Prokopchuk und Louis Musin saßen vereint am Esstisch. Die Assoziation Mutter, Vater, älterer und jüngerer Sohn lag nahe. So ließ Prokopchuk seinen Ärger tänzerisch Musin aus, vor allem beeindruckte er, wenn ich es richtig gesehen habe, mit zwei 540 Grad Sprüngen.
Caspar Sasse fungierte offensichtlich als Alter Ego von Musin, der sein Herz schließlich an Ida Praetorius verlor. Anna Laudere zeigte ihr tänzerisches Können in Pas de deux und Pas de trois mit Oberlin und Musin.
Als musikalische Grundlage dienten Klavierstücke von Franz Schubert und eingespielte Songs von Simon & Garfunkel.
Nach der Jugend folgte das Erwachsenwerden, die Suche nach dem Sinn des Lebens. Manches erinnerte an Neumeiers Matthäuspassion, wie die Rekrutierung der Apostel durch Jesus. Nacheinander von rechts auf die Bühne tretende Tänzer beugten sich vor Alessandro Frola und tauchten von unten in seine kreisförmig ausgebreiteten Arme hinein. Später folgte ein Männerensemble, bei dem die Tänzer ihre Hände wie um einen fiktiven Tennisball rieben.
Das Ensemble wurde tänzerisch mit Hebe- und Tragefiguren eingebunden. Wer fiel mir ins Auge: Unübersehbar Florian Pohl, diesmal mit Hayley Page als Partnerin, außerdem tanzten die beiden aus dem Hamburg Ballett ausscheidenden Solisten Lizhong Wang und Yun-Su Park. Und immer wieder liefen die Paare aufeinander zu, und aneinander vorbei, bis die Tänzer ihre jeweilige Partnerin von hinten an den Ellenbogen fassten und diese ihre vorwärtsdrängende Energie mit einem spitz nach vorn geschleuderten rechten Bein kompensierten.
Was gab es noch zu sehen, Alexandr Trusch und Madoka Sugai war ein schöner Pas de deux vergönnt, auch Christopher Evans und Alessandro Frola verbanden sich tänzerisch.
Nach der Pause befand sich der Holzturm wieder im Vordergrund der Bühne. Davor lagen, wie erstarrt unter gekippten oder in die Luft gehaltenen Stühlen, übereinander gehäuft Tänzerinnen und Tänzer, wie Tote oder Überlebende eines Bombenangriffs. Eine Assoziation an Kriegsfolgen war nicht von der Hand zu weisen. Ganz im Hintergrund saß eine junge schlanke Frau im roten Kleid, die dem Geschehen zusah.
Caspar Sasse nahte sich dem wie in einer Zeitschleife festgefrorenen Stühle-Menschen-Knäuel und erlöste zunächst den zum Stemmen verurteilten Tänzer. Das Ensemble erwachte und versuchte Ordnung in das Leben zu bringen. Die Stühle wurden in eine Reihe gestellt und davor mit Hingabe getanzt. Mit anmutigen Schritten trat Silvia Azzoni nach vorn auf die Bühne. Wie einst als Engel im Weihnachtsoratorium von Alexandr Trusch getragen, ließ sie sich auch jetzt mit unvergleichlich elegant hingestreckter Haltung über die Bühne heben.
Schließlich schritt die rotgewandete junge Frau zu dem Klavierspieler. Es handelte sich um die Sopranistin Asmik Grigorian, die mit glanzvoller und farbenreicher Stimme Vier letzte Lieder von Richard Strauss vortrug. Außerdem war sie in das Spiel der Tänzer eingebunden, allerdings ohne selbst zu tanzen.
Zum zweiten Lied September tanzten Alina Kojocaru und Jacopo Bellussi mit Hingabe und Perfektion den wohl schönsten Pas de deux des Abends. Danach hatte auch noch Aleix Martínez einen seiner expressiven Soloauftritte. Neumeiers Epilog endete wie es begann, mit dem Durchschreiten der Tür ins Jenseits (Im Abendrot); als Symbol für das Ende eines Lebens-, oder auf Neumeier übertragen, seines hiesigen Wirkungszyklus.
Das Ballett ist wegen eines fehlenden Handlungsfadens und dem gebotenen Eintauchen in Neumeiers Gedankenwelt sicher nicht leicht zu konsumieren. Das wird bei den zukünftigen Balletten anderer Choreographen einfacher sein. Während Neumeier-Ballette auch nach dem zehnten Ansehen immer noch Neues verkünden oder bisher Übersehenes entdecken lassen, hat man bei anderen Ballettmeistern bereits nach einer Vorstellung fast alles erfasst. Ein zweites Sehen erübrigt sich zwar nicht, da andere Besetzungen einen weiteren Eindruck hinterlassen können. Aber so fesselnd wie bei Neumeiers tiefgründigen Balletten wird es wohl zukünftig nicht mehr sein.
Am Ende jubelte das Premierenpublikum dem Ensemble, den Pianisten und der Sopranistin zu. Auch Albert Kriemler, der die schönen Kostüme entworfen hatte, verbeugte sich vor dem Publikum. Als Caspar Sasse schließlich John Neumeier auf die Bühne holte, sprang das begeistert applaudierende Publikum unisono auf, also nicht nur im Parkett, sondern, soweit ich sehen konnte, auch in den Rängen. So wurde John Neumeier die Ehre für seine jüngste Ballett-Kreation erwiesen.
Dr. Ralf Wegner, 1. Juli 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at