Beide motivieren sich gegenseitig musikalisch zur Höchstleistung. Jonas Kaufmann singt diese Partie nicht superleicht, wie auch bei all dem Gram? Doch er singt hochkonzentriert und jederzeit exakt auf den Punkt, so wie ich erfühle: So soll, so muss es sein. Klasse! Marlis Petersen gefällt mir stimmlich als Marietta wunderbar. Leicht, verrucht, lebenslustig, verspielt, provozierend: All das hat sie stimmlich drauf. Beide zeigen zudem eine grandiose schauspielerische Leistung. Mit Petrenkos samt seines Orchesters Interpretation von Korngolds Musik ist das größtes Opern-Hollywood!
Foto: Wilfried Hösl (c), Die tote Stadt: Marlis Petersen (Marietta), Jonas Kaufmann (Paul)
Bayerische Staatsoper, München, 1. Dezember 2019
Erich Wolfgang Korngold, Die tote Stadt
von Frank Heublein
Was für eine famose Leistung an diesem Abend! Ein Triumph des Trios Kaufmann-Petersen-Petrenko.
Erich Wolfgang Korngolds „Die tote Stadt“ empfinde ich musikalisch als sehr besonders. In keiner Oper bisher habe ich die Musik so auf die Sänger ausgerichtet erlebt. Niemals muss sich der oder die Singende gegen die Musik durchsetzen. Vielmehr trägt die Musik die Stimmen auf der Bühne wie auf einer Welle. Bei aller Dramatik und entsprechender Dynamik erlebe ich die Musik als steten Fluss. Mit Unebenheiten, Schwellen, Strudeln, Untiefen – doch stets fließend.
Eine Musik die für mich im besten Sinne filmorientiert funktioniert. Kündigt (drohend) an, flotte Szenen- und Emotionswechsel. Das ist Oper! Eingängige (keineswegs einfache!) Musik, super gesetzt fürs Libretto, die Sänger und die Handlung. Das klingt unter Kirill Petrenkos Staatsorchester prägnant, nuancenreich und pointiert. Eine großartige Leistung aller Musiker im Graben.
Die Rolle des Paul und die der Marietta sind äußerst anstrengend, schon allein ob der zeitlich unglaublich langen Präsenz auf der Bühne bei einer Nettospielzeit von etwa drei Stunden verteilt auf drei Akte. Das Duo Kaufmann – Petersen in den zwei Hauptrollen ist ein für mich magisches. Sie meistern alle Schwierigkeiten mit Bravour. Laden sich gegenseitig energetisch mit mehr als nur einer Ladung Dynamit auf. Der gemeinsamen Szenen sind viele und ich will, ja unbedingt (!), immer noch mehr davon. An der Zündschnur des Dynamits zündelt Dirigent Kirill Petrenko fabulös. Alert, konzentriert, einfach fabelhaft spielt sein Orchester.
Erich Wolfgang Korngold hat das Libretto mit seinem Vater Julius gemeinsam verfasst. Und wie die Musik den Sängern folgt, so ist das Libretto vollkommen auf seine beiden Hauptprotagonisten Paul und Marietta zugeschnitten. „Very straight“ würde der Englisch Sprechende das nennen. Und Simon Stone setzt dieses „straighte“ fort in seiner Inszenierung einer modernen aus Kuben bestehenden Räumen, die sich zu unterschiedlich zusammenfügen und auf der Drehbühne sich auch häufig drehend den Schauspiel-SängerInnen Raum geben, was immer die Rolle und die Handlung auch einfordert.
Paul trauert (schon sehr lange) um seine verstorbene Gattin Marie, igelt sich ein in der „toten Stadt Brügge“, bis er Marietta kennenlernt, die Marie auf’s Haar gleicht und seine Isolation aufbricht.
Der erste grandiose Duett-Höhepunkt im ersten Bild für mich: Paul und Marietta singen gemeinsam die zweite Strophe eines „traurigen“ Liedes. „Neig Dein blass Gesicht“ ist unendlich empfindsam, Paul greift Mariettas Hand ganz langsam während der Liedzeilen. Das berührt mich stark, so gut singen und spielen (!) es die beiden. Kurz danach ist Marlis Petersen entfesselt. Ich kann nicht mehr unterscheiden, ob nur Paul die Rolle oder auch Jonas Kaufmann selbst sich wehrlos dem „o Tanz, o Rausch“ Marlis Petersens ergeben muss. Ich tippe persönlich ja auf zweiteres: es bleibt meine reine Phantasie des zwingenden Moments, ganz ehrlich. Null Chance hat er jedenfalls. Gegen Petersens grenzenlose Energie ist kein Kraut gewachsen. Auch bei mir nicht. Sie entfacht mich.
Im zweiten Bild dann eine Szene, in der Andrzej Filonczyk als Fritz die für mich einzige extraponierte Arie singt, die nicht durch einen der beiden Hauptprotagonisten zum Besten gegeben wird: „Mein Sehnen, mein Wähnen“. Aufgrund des harmonischen Wahnsinnsduos Kaufmann-Petersen ist diese Szene fast „unter dem Radar“. Filonczyk singt sie mit emotionaler Tiefe.
Warum ich diese Szene als „unter dem Radar“ begreife? Das zeigt die darauffolgende lange 4. Szene des 2. Bildes. Wieder nur Paul und Marietta auf der Bühne. Dramatik pur! Er versucht sich von ihr zu lösen. Sich hinzuwenden an die tote Marie, die er glaubt so rein zu lieben. Doch er hat die Rechnung ohne Marietta gemacht. Geschickt verdreht sie Paul den Kopf, er erliegt ihr. Beispiel gefällig? Paul: „Brügge entweiht hab ich Dich und Sie!“ – Marietta: „[…] Sieh ins Gesicht mir, das du so geliebt. Dein ist’s! Und dein mein Aug. Und dein zu heißer Stund‘ Der durstge, lustgeschwellte Mund“.
Sie haben das wahrscheinlich nicht erlebt (alle Vorstellungen sind ausverkauft), aber ich. Beim Schreiben jetzt danach wird mir mich erinnernd erneut ganz schwummrig. Das zweite Bild endet mit Marlies Worten „So komm, Und trink Vergessenheit Im süßen Rausch“. Also: Ich als Paul fühlte da große Schwierigkeiten, im Moment zwischen Rolle und Wirklichkeit zu unterscheiden. Dieser mein Verdacht ist’s, der diese Aufführung für mich so überwältigend gut macht. In beiden Hauptrollen verschmelzen – das habe ich selten so gesehen! – Kaufmann mit Paul und Petersen mit Marietta.
Das dritte Bild ist eine unglaublich langanhaltende Spannungskurve. Marietta provoziert Paul bis zur Unendlichkeit, sich ihr hin- und Marie abzuwenden. Musikalisch ist da alles drin. Inklusive Generalpause: atemlose Spannung! Das Ganze kulminiert in Pauls Ermordung Mariettas: „Jetzt gleicht sie ihr ganz.“ Entsetzen, Erschrecken. Entgeisterung. Ich bin wie Paul der emotionalen Zerrüttung nah.
Ganz geschickt zieht jetzt das Libretto die Deus-ex-machina-Karte: Es war ein Traum, nur ein Traum des Paul! Ich bin ja so erleichtert! Jonas Kaufmann spielt diese letzte Szene ergreifend: „Ein Traum hat mir den Traum zerstört, Ein Traum der bittren Wirklichkeit Den Traum der Fantasie.“
Die vielen Duettszenen Kaufmann-Petersen sind allesamt bravourös, das Starduett schlägt sich stimmlich hervorragend und ist harmonisch zugewandt wie ich selten eines auf der Bühne sah. Beide motivieren sich gegenseitig musikalisch zur Höchstleistung. Jonas Kaufmann singt diese Partie nicht superleicht, wie auch bei all dem Gram? Doch er singt hochkonzentriert und jederzeit exakt auf den Punkt, so wie ich erfühle: So soll, so muss es sein. Klasse! Marlis Petersen gefällt mir stimmlich als Marietta wunderbar. Leicht, verrucht, lebenslustig, verspielt, provozierend: All das hat sie stimmlich drauf. Beide zeigen zudem eine grandiose schauspielerische Leistung. Mit Petrenkos samt seines Orchesters Interpretation von Korngolds Musik ist das größtes Opern-Hollywood!
Jonas Kaufmann und Marlies Petersen sind hervorragend. Mit Petrenkos Dirigat sind dies drei wirklich spektakuläre Darbietungen auf und vor der Bühne. Die drei funktionieren unglaublich gut miteinander. Dieses großartige miteinander harmonisch Funktionieren – die Summe ist weit mehr als die schon wunderbaren Virtuosen einzeln – ist für mich der größte Glanz des Abends. Und so empfinden es die drei wohl selbst: Kirill Petrenko umarmt Jonas Kaufmann überraschend aktiv. Der wiederum hebt davor die verwegen spielende grandios singende Marlies Petersen enthusiastisch überschäumend in die Luft. Ich (wie das gesamte Publikum) spende enthusiastisch langanhaltend Applaus.
Frank Heublein, 2. Dezember 2019, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Musikalische Leitung Kirill Petrenko
Inszenierung Simon Stone
Paul Jonas Kaufmann
Marietta/Die Erscheinung Mariens Marlis Petersen
Frank/Fritz Andrzej Filonczyk
Brigitta Jennifer Johnston
Juliette Mirjam Mesak
Lucienne Corinna Scheurle
Gaston/Victorin Manuel Günther
Graf Albert Dean Power
Bayerisches Staatsorchester
Chor der Bayerischen Staatsoper