Korngold leuchtet und lodert: Gabriel Venzago erobert Mainz

Erich Wolfgang Korngold, Die Tote Stadt  Staatstheater Mainz, 26. Oktober 2025

© Andreas Etter

Erich Wolfgang Korngold
„Die Tote Stadt“

Inszenierung: Angela Denoke
Musikalische Leitung: Gabriel Venzago
Philharmonisches Orchester Mainz

Staatstheater Mainz, 26. Oktober 2025

von Dirk Schauß

Manchmal, an gewissen Abenden, hat man das Gefühl, einer Stadt beim langsamen Verschwinden zuzusehen. In Mainz zum Beispiel, wo das Staatstheater gerade Erich Wolfgang Korngolds „Die tote Stadt“ neu herausgebracht hat – und wo Brügge, der eigentliche Schauplatz, nur noch als Wort existiert.

Als blasser Schatten in den Dialogen, als Erinnerung an etwas, das einmal eine Stadt war. Im Bühnenbild von Timo Dentler und Okarina Peter gibt es kein Pflaster, kein Wasser, keinen Turm, keinen Klang der Glocken – stattdessen drei schräg gestellte Holzhäuschen, expressionistisch verschoben, irgendwo zwischen Traum und Theaterbühne. Eine Ästhetik, die an die große Ära des Stummfilms à la Lang und Murnau denken lässt. Man kann das als konsequenten Zugriff lesen – oder als Versäumnis.

Denn wenn eine Oper unablässig von einer Stadt spricht, deren Atem man nicht sieht, bleibt etwas ungesagt, etwas, das zwischen den Tönen schwingt und nie ganz greifbar wird.

Die tote Stadt © Andreas Etter

Angela Denoke, die Regisseurin dieses Abends, weiß natürlich, was sie tut. Sie kennt das Stück von innen heraus, hat selbst oft als Marietta auf der Bühne gestanden, hat die Partitur in den Knochen. Ihr Blick ist nicht der einer Theoretikerin, sondern der einer Bühnenfrau, die weiß, wie sich eine Arie anfühlt, wenn man sie lebt. Und ihr Ansatz ist klar: kein romantisches Brügge, kein gotisches Kopfsteinpflaster, kein Symbolismus im Nebel, sondern die nackte, psychologische Realität eines Mannes, der an seiner Erinnerung zugrunde geht. Paul – der Witwer, der seine verstorbene Frau Marie in der Tänzerin Marietta wiederzusehen glaubt – ist bei ihr kein Held und kein Täter, sondern ein Gefangener. In sich selbst, in seiner Religiosität, in der Obsession, die er für Liebe hält. Ein Mensch, der sich in seinem eigenen Kopf eingemauert hat und sich mit Marietta nur toxisch verbinden kann.

Das Bühnenbild, ein labyrinthisches Ensemble aus geneigten Wänden, wirkt wie ein Gedächtnisraum, der sich selbst nicht traut. Häuser kippen gegeneinander, öffnen sich, schließen sich wieder, als würden sie atmen – oder gleich kollabieren. Dazwischen der Chor, schwarz gekleidet, maskiert, wie ein Schwarm von Wiedergängern, die sich nicht entscheiden können, ob sie Paul retten oder ihn endgültig verschlingen sollen.

Lichtdesigner Frederik Wollek taucht alles in ein fahles, von Nebel durchsetztes Grau, das nahezu körperlich wirkt. Man möchte die Kälte spüren, die Feuchtigkeit auf der Haut, das leise Knirschen von Schotter unter unsichtbaren Schritten.

Die tote Stadt © Andreas Etter

Die Stärke dieser Inszenierung liegt in der Konsequenz, mit der Denoke psychologische Schärfe gegen musikalische Opulenz setzt. Sie nimmt Korngolds Partitur ernst, vielleicht zu ernst. Wo der junge Komponist (er war gerade 23) noch Zwischenräume lässt – Licht, Ironie, filmische Übergänge, ein Hauch von Hollywood vor Hollywoods großer Tonfilmzeit –, zieht Denoke die Schraube bis zum Anschlag.

Ihre „Tote Stadt“ ist kein Traumspiel, sondern ein Psychothriller, ein düsteres Kammerspiel ohne Erlösung. Selbst die Komödiantentruppe, sonst ein kurzes Aufatmen, wird hier zum Alpdruck. Pierrot (Brett Carter) bleibt bleich, verletzlich, gruselig. Sein berühmtes Lied „Mein Sehnen, mein Wähnen“ wird nicht zur lyrischen Insel, sondern zur zarten, gebrochenen Selbstoffenbarung – ein Moment, in dem man die Luft anhält, weil man spürt: Hier singt jemand, der schon halb tot ist.

Die tote Stadt © Andreas Etter

Musikalisch ist das Mainzer Haus in Bestform, ja, ein Hauch von Großstadt-Oper à la MET weht durch den Saal, auch wenn man es kaum glauben mag. Gabriel Venzago, der neue Generalmusikdirektor, dirigiert mit spürbarer Leidenschaft, mit einer Art hungriger Hingabe. Er lässt Korngolds Partitur intensivst leuchten – und brennen. Farben, Dynamiken, diese unwirklichen Steigerungen zwischen Mahler und Hollywood: Venzago kostet sie aus, bis es wehtut. Er geht bis an die Schmerzgrenze und darüber hinaus. Es ist ein riskanter Zugriff, manchmal sehr laut, manchmal zu dicht, aber niemals gleichgültig. So sollte, so muss es sein! Und wer „Die tote Stadt“ dirigiert, ohne Risiken einzugehen, hat das Werk ohnehin nicht verstanden. Venzago zeigte sich jedenfalls als formidabler Anwalt für dieses Meisterwerk – einer, der die Partitur nicht nur spielt, sondern sie lebt, als wäre sie sein eigenes Fieber.

Das Philharmonische Orchester Mainz klingt dabei erstaunlich präsent und herrlich lebendig: die Holzbläser von feiner Transparenz, die Streicher mit seidigem und auch süßem Ton, das Blech glühend, ohne zu protzen. Das reich geforderte Schlagzeug agiert wuchtig und dynamisch differenziert, als hätte es selbst eine Rolle zu spielen. Es gibt Momente – etwa in der großen Traumsequenz –, in denen sich Klang und Szene ineinander spiegeln, als würde Pauls Wahn direkt aus dem Orchestergraben aufsteigen, als wäre das Orchester sein Herz, das zu laut schlägt. Verblüffend, wie das entfesselt aufspielende Orchester wie ein lebendiger Organismus agierte und der Vorstellung den existentiellen Herzschlag verpasste. Umso schmerzlicher war es, dass es in Mainz, wie leider fast überall, nur ein verstümmeltes Vorspiel zum zweiten Akt gab, was dem Orchester einen wesentlichen Wirkungsmoment raubte. Sehr schade – ein kleiner, aber spürbarer Stich ins Herz.

Die tote Stadt © Andreas Etter

Und dann die Sänger. Corby Welch ist ein Paul von seltener Glaubwürdigkeit und hinreißender stimmlicher Bewältigung. Diese Partie ist ein Marathon, ein vokaler Drahtseilakt zwischen heldentenoraler Wucht und lyrischer Selbstentblößung. Welch schafft beides auf Weltklasse-Niveau: Er besitzt das Metall, um gegen Korngolds Orchester anzusingen, und zugleich die Delikatesse, um im Pianissimo ganze Welten anzudeuten. In den leisen Momenten, wenn die Stimme zu schweben scheint, zeigt sich sein eigentliches Format. Welch’ Paul ist kein pathetischer Wahnsinniger, sondern ein Suchender, ein Mensch, der in seiner Trauer stecken geblieben ist, als wäre die Zeit um ihn herum stehen geblieben. Sein Timbre hat Wärme, das Vibrato nie übertrieben, die Textverständlichkeit bemerkenswert.

Die tote Stadt © Andreas Etter

Der Klang seiner Tenorstimme ist sehr variationsreich und verfügt zudem über einen brennenden Schmerzenston, der in den vielen leisen Momenten tief berührt – ein Ton, der einem unter die Haut geht. Welch gelang etwas ganz Seltenes: zu keinem Zeitpunkt klang er gefährdet oder gar forciert. Stimmlich und darstellerisch wurde er ganz eins mit dieser faszinierenden Rolle. Frenetischer Jubel für diese Ausnahmeleistung, die in dieser Form international konkurrenzlos sein dürfte.

Die tote Stadt © Andreas Etter

Nadja Stefanoff als Marietta (und Marie) steht ihm in nichts nach. Sie hat diesen Part verinnerlicht, als wäre er ein Teil von ihr. Ihr Sopran ist von schimmernder Klarheit, mühelos in der Höhe, kraftvoll, ohne Schärfe. Wenn sie singt, klingt alles selbstverständlich, leicht – und das bei einer Rolle, die technisch und psychologisch zu den komplexesten des Repertoires gehört. Stefanoff gestaltet die Doppelrolle differenziert: Ihre Marietta ist sinnlich, lebenshungrig, selbstbestimmt, manchmal sogar derb, ein Mensch, der das Leben mit beiden Händen packt; ihre Marie dagegen ist Erinnerung, still, geisterhaft, ein inneres Echo, das nur in Pauls Kopf existiert. Zwischen beiden Figuren wechselt sie mit minimalen stimmlichen Nuancen – ein Kunststück, das man kaum wahrnimmt, so organisch gelingt es, so natürlich, als wäre es keine Kunst, sondern einfach Menschsein.

Zwischen Welch und Stefanoff herrscht eine spürbare Spannung, ein magnetisches Gegeneinander, das den ganzen Abend trägt. In den großen Duetten – etwa im berühmten „Glück, das mir verblieb“ – entsteht ein Moment von echter Intimität, in dem Musik, Szene und Emotion eine seltene Einheit bilden. Venzago trägt die Beiden förmlich auf Händen, die Celesta glitzert wie ein ferner Stern, die Streicher atmen mit, als wären sie selbst verliebt. Es ist, als hielte die Zeit für einen Augenblick den Atem an – ein Moment, in dem man vergisst, dass man im Theater sitzt.

Die tote Stadt © Andreas Etter

Auch die Nebenrollen sind sorgfältig besetzt, mit Liebe zum Detail. Karina Repova als Brigitta verleiht der Haushälterin eine berührende Wärme, ihr Mezzo klingt dunkel und tröstlich, wie eine Umarmung in der Kälte. Brett Carter überzeugt in der Doppelfunktion als Frank und Fritz mit flexibler Stimmführung, besonders in seiner lyrischen Seite, wo er plötzlich zerbrechlich wird.

Das übrige Ensemble wirkt homogen, die Chorarbeit präzise, die choreografierten Gruppenbewegungen (Fabio Toraldo) rhythmisieren den Abend wie ein innerer Pulsschlag, wie ein Herz, das nicht aufhören will zu schlagen.

Die tote Stadt © Andreas Etter

Am Ende, wenn Brigitta (in Denokes Deutung) selbst zur Täterin wird und Paul mit Maries Schal erdrosselt, bleibt der Applaus einen Moment lang aus – ein Schweigen, das mehr sagt als jede Ovation. Es ist ein Schockmoment, ja, aber auch ein Symbol: Die Hoffnung, die Korngold am Schluss noch komponiert hat, wird hier verweigert. Der Traum endet mit Gewalt. Allerdings geschieht diese letzte Aktion im Einverständnis mit Paul, der Brigitta entrückt anlächelt, als würde er sagen: „Mach es. Erlöse mich.“ Ein Liebesdienst, der keiner ist.

Bleibt das Bühnenbild, das in seiner Dunkelheit durchaus fasziniert, aber auch beschränkt. Diese drei schiefen Häuschen – so klug sie als Symbol des seelischen Ungleichgewichts gedacht sind – bieten wenig Raum für Entfaltung. Manchmal wünscht man sich, sie würden sich endlich öffnen, den Nebel der Stadt preisgeben, das feuchte Kopfsteinpflaster, die Glocken von Brügge, das leise Plätschern eines Kanals. Stattdessen bleibt man im Inneren, eingesperrt mit Pauls Gespenstern. Das ist stimmig, aber auf Dauer etwas eintönig, wie ein Traum, der nicht mehr aufwacht.

Korngolds Musik will mehr Raum – sie will Weite, Spiegelungen, Wind, Wasser, das Rauschen von Leben und vor allem Farben als Gegenpol.

Vielleicht ist das das Paradox dieser Produktion: Sie ist zu gut, um leicht zu lieben, zu konsequent, um ganz zu atmen. Angela Denoke denkt scharf, führt präzise, lässt ihre Figuren glaubwürdig agieren, als wären sie Menschen aus Fleisch und Blut. Sie nimmt die Oper ernst – sehr ernst. Doch Korngolds Werk, so jung es komponiert wurde, trägt eben auch diesen Überschwang, diesen Rest von Romantik und Traum, den man in Mainz fast gänzlich ausgeblendet hat. Als hätte man die Stadt Brügge aus der Oper herausoperiert.

Und so verlässt man das Theater mit einem ambivalenten Gefühl: beeindruckt von der Stringenz, sehr ergriffen von der Musik und deren formidabler Umsetzung, aber auch ein wenig traurig – weil die „Tote Stadt“ wieder einmal totgeschwiegen wurde. Dabei wäre sie es, die dem Werk den Atem gäbe. Brügge, dieses melancholische Spiegelbild der Erinnerung, hat Korngold einst inspiriert; heute scheint es von der Spielfläche zu verschwinden, als wäre es nie da gewesen. Vielleicht ist es an der Zeit, die Stadt Brügge zurück auf die Bühne zu holen – bevor sie ganz im Nebel der modernen Regieästhetik verschwindet.

Dirk Schauß, 27. Oktober 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Philharmonisches Staatsorchester Mainz, Gabriel Venzago Staatstheater Mainz, 13. September 2025

Arthur Honegger & Jacques Ibert, L’Aiglon Staatstheater Mainz, 2. Februar 2025

Erich Wolfgang Korngold, Die tote Stadt Opernhaus Zürich, 29. Mai 2025

Erich Wolfgang Korngold, Die tote Stadt Staatsoper Hamburg, 19. Juni 2024

Erich Wolfgang Korngold (1897 – 1957), „Die tote Stadt“ klassik-begeistert.de, 6. Oktober 2024

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