Die tote Stadt/Opernhaus Zürich © Monika Rittershaus
Gleich zwei Morde.
Ob das in Korngolds Sinne ist?
Ich hege Zweifel
Es wird sehr schnell klar, Paul ist kein netter, umgänglicher Mensch,
vielmehr ist er gewalttätig, aggressiv und möglicherweise psychopathisch.
Die tote Stadt
von Erich Wolfgang Korngold
Libretto: Paul Schott (Julius und Erich Wolfgang Korngold)
nach dem Roman «Bruges la morte» von Georges Rodenbach
Musikalische Leitung: Lorenzo Viotti
Inszenierung und Bühnenbild: Dmitri Tcherniakov
Kostüme: Elena Zaytseva
Lichtgestaltung: Gleb Filshtinsky
Video: Tieni Burkhalter
Choreinstudierung: Ernst Raffelsberger
Dramaturgie: Beate Breidenbach
Philharmonia Zürich
Zusatzchor, SoprAlti und Kinderchor der Oper Zürich
Statistenverein am Opernhaus Zürich
Opernhaus Zürich, 29.Mai 2025
von Kathrin Beyer
Bisher haben mich die Operninszenierungen hier in Zürich noch nie enttäuscht, im Gegenteil, oft ging ich sehr beschwingt und glücklich aus den Vorstellungen.
Eine wirkliche Sternstunde durfte ich hier erleben.
Das (auch auf dieser Plattform) viel diskutierte, sogenannte Regietheater, blieb mir bisher erspart.
Sie sehen, Zürich und ich, wir mögen uns…
Seit gestern Abend ist die Trefferquote nicht mehr bei 100 Prozent.
Leider! Ausgerechnet Die tote Stadt wurde neu interpretiert, neu beleuchtet und auch ein Stück weit verändert und zu einem gewalttätigen, mörderischen Psychodrama gemacht.
Was bisher geschah
Der Oper vorangestellt ist ein gesprochener Prolog.
Paul und seine Frau Marie sind zu sehen, sie in unterwürfiger, starrer Haltung und Paul, dominant in Gestik, Mimik und Wortwahl. Er macht ihr seine Sicht auf Frauen im Allgemeinen und Speziellen klar. Er habe sie, die Sechzehnjährige, gewählt, weil er weiß, dass es für sie nichts anderes gibt, als sich ihm vollständig unterzuordnen…
Ich zitiere aus dem Monolog: „Eine liebende Frau vergöttert selbst die Laster, selbst die Missetaten des geliebten Wesens.“
Es wird sehr schnell klar, Paul ist kein netter, umgänglicher Mensch, vielmehr ist er gewalttätig, aggressiv und möglicherweise psychopathisch.

Maries Tod wird hier als Selbstmord durch einen Sprung aus dem Fenster kolportiert.
Aber vielleicht ist sie ja auch gar nicht freiwillig gesprungen, möglicherweise hat Paul sie ja auch gestoßen…? In jedem Fall ist er schuldig, egal ob er sie in den Suizid trieb oder selbst Hand anlegte.
Weshalb?
Der Regisseur ist der Meinung, dass, entgegen dem Ursprungswerk, der Tod der Ehefrau nicht ausreicht, um eine so tiefe Trauer zu empfinden, die bei Paul durchaus psychotische Züge annimmt. Er (der Regisseur) ist der Ansicht, dass noch tiefe Schuldgefühle hinzukommen müssen, um die Intensität des Leidens glaubhaft zu machen und die psychischen Auffälligkeiten, die Paul in seinem Kummer ohne Zweifel hat, zu erklären.
Und so wird aus Paul ein unsympathischer, gewalttätiger, aggressiver und möglicherweise psychopathischer Mensch, dessen Trauer nicht so ganz nachvollziehbar ist.

Die Umsetzung
Handlung, Libretto und Musik sind des Öfteren nicht stringent. Mein persönliches Empfinden der Musik und die Handlungen auf der Bühne, divergieren mehr als ein Mal.
Das Bühnenbild ist sehr wirkungsvoll und stimmig; ich weiß sofort, dass ich dort nicht begraben sein möchte. Eine graue, triste Hausfassade nimmt einen Großteil der Bühne ein. Im Hochparterre befindet sich eine wenig einladende Wohnung, mit einem langen Flur, mehreren Zimmern, eines neben dem anderen. Jeder Raum ist mit steril wirkenden, kugeligen Lampen ausgestattet, deren kaltes Licht es ermöglicht, das Geschehen durch die Fenster zu verfolgen.
Vor dem Haus ist ein großer freier Platz.
Die Kostüme passen sich der herrschenden Atmosphäre an und sind vorrangig trist.
Die Ausnahme ist Marietta, die etwas Schwung in die Kleiderordnung bringt. Es sind im Übrigen drei Mariettas, denen Paul begegnet.

Was weiter geschieht
Paul trifft nach langer Zeit der Einsamkeit und der obsessiven Huldigung seiner Toten auf Marietta. In seiner Wahrnehmung sieht diese genau wie seine verstorbene Frau aus und im Kontext der wahnhaften Trauer, ist er der Überzeugung, Marie sei wieder auferstanden.
Um den Zuschauern überdeutlich zu machen, dass Marietta in der Realität absolut nicht wie Marie aussieht und auch nicht wie Marie ist, zeigt sich Marietta in jedem der drei Akte vollkommen verändert, innerlich wie äußerlich.
Paul übersieht diesen Hinweis, er liebt sie als Marie wahnhaft weiter.
Oder er beschimpft sie, Maries Andenken zu beschmutzen, weil sie so zügellos ist und Marie so rein war. Dennoch verfällt er ihr und ihren Reizen. Und von Zeit zu Zeit wird er ihr gegenüber aggressiv und handgreiflich. Das sind die Momente in denen ich mich frage, was Marietta bewegt, bei Paul zu bleiben, da sie als taffe, selbstbewusste, selbstbestimmte, moderne Frau gezeigt wird, die Männerfreundschaften zerstört, weil sie über die Anzahl der in einer Beziehung lebenden Menschen eigene Ansichten hat. Leider hat sie das mit den Herren nicht kommuniziert. Sie bleibt bei Paul, bis zum Ende, in diesem Fall bis zu ihrem Lebensende.

Denn anders als in der Ursprungsoper, wacht Paul hier nach dem Mord an Marietta nicht auf, um erleichtert festzustellen, dass die letzten beiden Akte nur ein Traum waren.
Es gibt keine Hoffnung, dass Paul, durch diesen schrecklichen Traum aufgerüttelt, die Chance auf einen Neuanfang in einer anderen Stadt bekommt.
Das erscheint dem Regisseur nicht glaubhaft genug.
Schade, ein bisschen Hoffnung täte gut.
Auf die Sänger ist Verlass
Eric Cutler gibt sein Rollendebüt als Paul. Und er ist ein grandioser Paul. Berechtigt heimst er frenetischen Beifall ein. Seine Stimme ist so stark, dass er diese durchaus anspruchsvolle Partie scheinbar mühelos bewältigt. Besonders berühren mich seine sehr hohen Töne, die er zart, melancholisch und unangestrengt singt. Grundsätzlich beeindruckend ist die Wandlungsfähigkeit seiner Stimme. Egal ob aggressiv, zornig, traurig, er bringt es zum Ausdruck.

Er ist ein extrem intensiver Paul, sowohl im Gesang als auch im Schauspiel. Und dass ich von Zeit zu Zeit Mitgefühl empfinde, liegt allein an seiner Leistung. Chapeau!

Den drei Mariettas hauchte Vida Miknevičiūtė Leben und Stimme ein. Sie schafft es, die drei völlig verschiedenen Frauentypen glaubhaft zu verkörpern. Die erste Marietta ist sehr lässig, salopp und frech. Die zweite Marietta ist eine Schauspielerin, eine Grand Dame mit einem hohen Männerverschleiß, die ihre Wirkung kennt und sich in Szene setzt.
Die dritte Marietta ist die mit Paul zusammen Lebende, taff, selbstbewusst und eigensinnig. Eine, die Pauls Trauer und Gewaltbereitschaft unterschätzt und sich der möglichen Tragweite nicht bewusst ist, wenn sie Maries Kleid, Schal und Perücke, die Paul wie Heiligtümer aufbewahrt und behandelt, aus dem Fenster wirft.
Ihr Gesang kann all diese Mariettas beeindruckend untermauern. Sie hat einen sehr starken Sopran, klar und ohne jemals schrill zu klingen. Wut, Verführung, Spott, Leichtigkeit, Angst kann sie stimmlich wunderbar transportieren. Wut oder Angst muss nicht schön klingen…
Mariettas Lied, das zum Ende hin zu einem Duett mit Paul wird, ist der erste Gänsehautmoment des Abends. Sie singt es voller Leidenschaft und strahlend schön, er fällt mit ein und beider Stimmen harmonieren eindrucksvoll miteinander.

Evelyn Herlitzius gibt als Haushälterin Brigitta ebenfalls ihr Rollendebüt. Sie begeistert mich mit ihrem sehr warmen und ebenso starken Mezzo. Dank ihrer vollen Stimme und dunklen Stimmfärbung klingt ihre Mahnung an Paul besonders ernst und ernstzunehmend.
Björn Bürger ist in einer Doppelrolle als Frank und als Fritz der Pierrot zu hören und sehen. Sein Bariton ist dunkel timbriert und sein als Fritz gesungenes „Mein Sehnen, mein Wähnen…“ ist der zweite Höhepunkt des Abends. Wieder ein Gänsehautmoment.
Alle anderen Gesangsrollen sind ebenfalls sehr gut besetzt. Ich sollte noch anmerken, dass die Sänger und Sängerinnen unter erschwerten Bedingungen singen durften, da sie zeitweise auf Inlinern oder joggend unterwegs sind.
Der Kinderchor klingt zauberhaft.
Lorenzo Viotti und die Philharmonia Zürich bereiten den Sängern nicht immer den roten Teppich. Zumindest dort, wo ich sitze, übertönt das Orchester bisweilen die Gesangsstimmen, insbesondere zu Beginn der Aufführung. Im weiteren Verlauf des Abends hat sich das eingespielt.
Fazit
Ich habe Paul nie als monströsen Ehemann gesehen, sondern als einen Menschen, der aus der Trauer um seine Frau nicht herauskommt und ein Schockerlebnis benötigte, um aufzuhören, sich im Kreis zu drehen.
Das hoffnungsvolle Ende bei Korngold finde ich wunderbar, da es aus meiner Sicht kein Happy End ist, sondern eben „nur“ Hoffnung gibt. Ob Paul der Neustart gelingen wird, weiß man nicht.
Dank der tollen sängerischen Leistungen kann ich den Abend und ein paar emotionale Momente genießen.
Der Ansatz der Regie hat mich nicht überzeugt, es gab zu viele Ungereimtheiten.
Und so bleibe ich, wider Erwarten, erstaunlich emotionslos an diesem Abend.
Auf dem Heimweg erzähle ich meinen Begleitungen, halb empört, halb amüsiert, dass der Mann neben mir fest eingeschlafen ist. Sie hatten Verständnis für ihn, beide fanden die Inszenierung langweilig.
Nun, soweit würde ich nicht gehen, aber ich verstehe, was sie meinen.
Kathrin Beyer, 30.Mai 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Erich Wolfgang Korngold (1897 – 1957), „Die tote Stadt“ klassik-begeistert.de, 6. Oktober 2024
Erich Wolfgang Korngold, Die tote Stadt Staatsoper Hamburg, 19. Juni 2024
Erich Wolfgang Korngold, Die tote Stadt Staatsoper Hamburg, 5. Juni 2024
Erich Wolfgang Korngold, Die tote Stadt ENO English National Opera, 28. März 2023
Vielen Dank für Ihren Kommentar zur Zürcher Aufführung der Toten Stadt. Ich war auch total enttäuscht von der Interpretation des Regisseurs, immer diese eigenwilligen Auslegungen des Librettos… Auch ich liebe die Oper in Zürich…
Liebe Grüße,
Heidi Schmölz