Evgeny Kissin © Christian Palm
Evgeny Kissin gibt in der Düsseldorfer Tonhalle einen herrlichen Klavierabend. Währenddessen wird unerträglich viel getuschelt.
Tonhalle Düsseldorf, 2. Juli 2025
Johann Sebastian Bach (1685-1750) – Partita Nr. 2 in c-Moll, BWV 826
Frédéric Chopin (1810-1849) – Nocturne in cis-Moll, op. 27, Nr. 1; Nocturne in As-Dur, op. 32, Nr. 2; Scherzo Nr. 4 in E-Dur, op. 54
Dmitri Schostakowitsch (1906-1975) – Sonate Nr. 2 in h-Moll, op. 61; Präludium und Fuge in Des-Dur, op. 87, Nr. 15; Präludium und Fuge in d-Moll, op. 87, Nr. 24
Evgeny Kissin, Klavier
von Brian Cooper
Die Düsseldorfer Tonhalle ist ein merkwürdiger Ort. Frans Brüggen hörte ich hier mal beim Schumannfest, dann ein Rezital mit Lev Vinocour, mit dem ich anschließend die Altstadt unsicher machte, in Begleitung seines zwielichtigen Plattenproduzenten. Lev schimpfte aufs Unterhaltsamste, mitunter vulgär und misanthropisch, über alles und jeden, und auch mir war nun bei meinem insgesamt nur dritten Besuch, einem Rezital mit Evgeny Kissin, der in diesem Jahr „Portraitkünstler“ des Klavier-Festivals Ruhr ist, reichlich misanthropisch zumute.
Obwohl das einstmalige Planetarium über 1800 Menschen fasst, wirkt es wie ein aufgeblähter Kammermusiksaal (ein Klavierabend wirkt tatsächlich wie ein Hauskonzert) oder eine Art zusammengestauchter Philharmonie: Man sitzt eng aufeinander, wie in einem Ryanair-Flieger, nur sind die Sitze hier höllisch bequem. Zumindest im dritten Parkett klingt die Akustik matt; der Applaus ist, unterm Dach des darüber liegenden Rangs, unerträglich laut; leider hört man auch sehr gut, was abseits der Bühne stattfindet – dies eine einzige Gemeinsamkeit mit der Elbphilharmonie. Zwar wurde weniger gehustet als in der Philharmonie des großen städtischen Rivalen Köln, dafür aber umso mehr getuschelt.
Was hatten die Damen und Herren sich nicht alles mitzuteilen, während Kissin da vorne zauberte! Sie neigten ihre kecken Köpfchen zusammen, als gäb’s kein Morgen. Erste Erkenntnis: Nicht immer bedeutet schicke Kleidung gutes Benehmen.
Kissin beginnt mit Bachs c-Moll-Partita. Es ist nicht der Flow des Sokolov, vielmehr ist es, obgleich transparent, ein meditativerer Bach. Die Nähmaschinenpräzision Gould’scher Prägung beeindruckt. Kissin baut in die Wiederholungen Verzierungen ein. Die dialogische Zwiesprache seiner Hände sorgt für Klarheit, doch bisweilen hat man das Gefühl, die rechte will lospreschen und wird von der linken gebremst. Der fünfte Satz ist an der Grenze zum Manierismus, überschreitet diese jedoch nie. Hingegen erzeugt der Finalsatz eine Spannkraft eben wie bei besagtem Sokolov.
Kissin ist neben einer Handvoll Anderer – Zimerman und Blechacz etwa – einer der großen Chopin-Interpreten unserer Zeit, und das schon sehr lange. Zwei Nocturnes eröffnen den Chopin-Block vor der Pause: Im op. 27,1 hebt er zu Beginn ein Suchen hervor, ein Tasten, das zum Werk passt, denn es sucht anfangs nach Harmonie(n). Währenddessen nestelt eine Zuspätkommende an ihrer Plastiktüte, lässt sie einfach nicht los. Es nervt. Kissin spielt anschließend das Nocturne op. 32,2. Ein Wunder der Agogik, die Noten fallen wie Tropfen. Was fasziniert: Es ist ein Chopin jenseits jeglichen Kitschverdachts, jenseits aller parfümierten Melancholie, die einem diese wunderbare Musik so schnell verleiden kann. Im vierten Scherzo op. 54 ist Kissin über jeden Zweifel erhaben. Dem notorisch schweren Werk hört man das Diffizile niemals an. Der Mittelteil ist voller Charme, der Aufschwung zum Ende genial.
Derweil ereignet sich in der Reihe vor uns ein absurdes Schauspiel: Eine Dame will die Brille ihres Begleiters ausprobieren. Zieht sie an, gibt sie ihm zurück. Das alles unter zwar leisen, jedoch gut hörbaren, Zischlauten. Die beiden Damen zu meiner Linken unterhalten sich auch prächtig: nicht im Sinne von divertirsi, sondern von Dauergequassel. Sie setzen sich zur Pause ob meiner bösen Blicke um und quatschen woanders weiter.
Kissin beginnt den zweiten Teil mit Dmitri Schostakowitschs zweiter Klaviersonate. Von Anbeginn ist Struktur da, eine klare Linie, es schweift im Kopfsatz ins Groteske ab, der Marsch ist für den Pianisten laut Programmhefttext (Christoph Vratz) ganz klar eine Parodie pompöser sowjetischer Feierlichkeiten zum 1. Mai. Wunderbare Stille im Publikum nach dem ersten Satz, nur ein einziger Huster macht sich bemerkbar. Das Largo schwankt zwischen Lyrischem und Bedrohlichem, der Finalsatz beginnt mit einem regelrechten Ohrwurm. Kissin spielt die rasanten Passagen mit ähnlich kompromissloser Kontrolle wie Trifonov vor kurzem in Leipzig.
Auch die beiden Präludien und Fugen aus dem op. 87 (Nr. 15 und 24) lässt Kissin kinderleicht, federleicht, klingen. Das 24. Präludium hat allerdings eine Gravitas, die an die wunderbare Aufnahme der großen Tatjana Nikolajewa erinnert. Die Fuge ist nicht nur im Dreitonmotiv geistesverwandt mit dem Finalsatz der Sonate. Sie wird unter Kissins Händen immer drängender, aus einem Gebet wird pure Verzweiflung. Man möchte sich viel mehr mit dem Klavierwerk des Dmitri Schostakowitsch beschäftigen, und das Jubiläumsjahr bietet auch live diverse Möglichkeiten.
Die Brillendame, die immer wieder Kissins Gestik nachahmt und Zuschauer sucht, findet derweil auch in der Dame zu ihrer Linken eine eifrige Gesprächspartnerin. Das absurde Schauspiel geht in den zweiten Akt über. Eine Handtasche wird auf- und zugemacht, aber nichts entnommen. Es scheint darum zu gehen, wie man möglichst ohne zu stören einen Reißverschluss öffnet, und genau das stört ungemein. Man scheint zu viert zu sein, doch der Herr ganz links bleibt stumm. Ihm möchte ich einen Orden umhängen, die Anderen irgendwann nur noch würgen. Stattdessen lege ich mein Programmheft zwischen die tuschelnden Gesichter. Man schaut empört, hat offenbar keinerlei Schuldgefühle. Dabei sind Cafés für solcherlei Unterhaltungen so viel geeigneter als Konzertsäle.
Es folgt ein herrlicher Zugabenblock, diesmal mit „nur“ drei Werken. Doch was für welche! Kempffs Bearbeitung der Sicilienne (BWV 1031) ist ein zarter Hauch, bewegend, man denkt an Dinu Lipatti. Dann eine unfassbar großzügige zweite Zugabe: Chopins b-moll-Scherzo op. 31. Kissin spielt es in Vollendung, derweil das Pärchen neben uns zunächst ihn tumb filmt, und anschließend SICH: die unerträgliche Eitelkeit des Seins. Der Saal steht Kopf, die Mehrheit der Menschen ist dankbar und wird mit einem cis-Moll-Walzer (Chopin) in den gewittrig-heißen Sommerabend entlassen.
Es gab an diesem Abend viel zu erzählen. Der Meisterpianist Evgeny Kissin tat dies am Klavier auf vielfältigste poetische Weise; eine Minderheit im Publikum – und es ist immer nur eine Minderheit, die meisten kommen für die Musik – tat dies ebenfalls auf unterschiedlichste Art verbal. Von Ersterem waren mein Begleiter, bis dato Kissin-Novize, und ich angetan, ja: angerührt. Hören Sie diesen Pianisten, so oft Sie können und wollen – wenn man Sie lässt…
Dr. Brian Cooper, 3. Juli 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Klavier-Festival Ruhr, Evgeny Kissin, Klavier Dortmund, Konzerthaus, 4. Juli 2024
Gustav Mahler – Sinfonie Nr. 2 c-moll Tonhalle Düsseldorf, 16. März 2025
Düsseldorfer Symphoniker, Michael Sanderling, Dirigent Tonhalle Düsseldorf, 7. März 2025