Riccardo Muti ist auf Abschiedstournee in Europa

FAREWELL TOURNEE Riccardo Muti, Chicago Symphonie Orchestra  Philharmonie Essen, 14. Januar 2024

Riccardo Muti © Todd Rosenberg

Auf seiner „Farewell Tour“ mit dem Chicago Symphony Orchestra quer durch Europa dirigiert der Maestro in der Essener Philharmonie von seinem Heimatland Italien inspirierte Werke.

Philip Glass (*1937) – The Triumph of the Octagon für Orchester

Felix Mendelssohn-Bartholdy (1809-1847) – Sinfonie Nr. 4 A-Dur, op. 90, „Italienische“

Richard Strauss (1891-1953) – Aus Italien. Sinfonische Fantasie G-Dur, op. 16


Chicago Symphony Orchestra
Riccardo Muti, Dirigent

Philharmonie Essen, 14. Januar 2024

von Brian Cooper, Bonn

Von 2010 bis zum Ende der abgelaufenen Saison 2022/23 war Riccardo Muti Chefdirigent des Chicago Symphony Orchestra (CSO). Dies ist nur eine von vielen Stationen eines bemerkenswerten Dirigentenlebens. Nun ist Muti, einer der berühmtesten und auch bedeutendsten Dirigenten unserer Tage, in seiner Funktion als Music Director Emeritus for life ein letztes Mal mit dem CSO auf Europatournee. Traditionell kommt die Spitzenband ungefähr alle zwei Jahre im Januar nach Europa. Diesmal gibt sie 14 Konzerte in nur 19 Tagen, und das in elf Städten und sieben Ländern.

Die Homepage der Essener Philharmonie kündigte den Konzertabend „bereits im Vorfeld als historisch“ an. Dieses überstrapazierte Wort soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass das CSO eines der besten Orchester der Welt ist. Viel spannender ist aber die Tatsache, dass das Programm des Abends besonders sorgfältig und reizvoll kuratiert war: Der Fokus lag auf Italien.

Philip Glass wurde 1937 geboren, dem Jahr, in dem George Gershwin starb. Ein halbes Jahr waren die beiden also Zeitgenossen, doch die Musik dieser beiden wichtigen amerikanischen Komponisten könnte unterschiedlicher nicht sein. Glass’ neues Werk The Triumph of the Octagon ist inspiriert durch ein Bild des achteckigen Castel del Monte, das jahrelang in Mutis Büro hing. Dieser war schon im Alter von fünf davon fasziniert.

Das Werk erklang in einer groß besetzten Streichergruppe mit Harfe und nur sechs Holzblasinstrumenten. Man hört zu Beginn nicht sofort, dass es Philip Glass ist: Das mitunter Enervierende der minimal music weicht hier einem Klangteppich, langsam und getragen, mit Wellen- und Gegenbewegungen. Hinterher ist es purer Glass, vor allem in der Harmonik, doch es ist der mysteriöse Beginn, der fasziniert, da er Bilder des Schlosses bei Nacht weckt. Muti dirigierte wie stets elegant, das Orchester spielte natürlich brillant. Doch bleiben zwei Fragen, nämlich erstens, ob es genau dieses Werk sein wird, das von Glass bleiben wird in, sagen wir, 50 Jahren; und zweitens, warum das Achteck ausgerechnet „triumphiert“. Es sind keine Pini di Roma.

Sun, Jan 14, 2024, Chicago Symphony Orchestra, Riccardo Muti, Conductor, 2024 European Tour, Concert in Essen © Todd Rosenberg Photography 2024

Denkt man an Orchestermusik und Italien, fällt den meisten Menschen natürlich sofort Mendelssohns Italienische Sinfonie ein, die Mutis Landsmann Claudio Abbado so herrlich mit dem London Symphony Orchestra einspielte.

 

Die Lesart dieser Vierten in Essen war so ganz anders, als man es gewohnt ist. Vor allem viele Tempi waren langsamer gewählt, als es üblicherweise der Fall ist. Gerade den ersten Satz assoziiere ich immer mit prickelndem Champagner. Hier war, trotz aller Perfektion, der Champus schon ein wenig zu lange im Glas; vielleicht spräche man besser von einem leichten Rotwein. Das langsame Tempo des ersten Satzes bewirkte allerdings, dass man in der Durchführung Neues vernahm, das sonst eher untergeht.

Das wunderbare Andante war hingegen ein klassisches, also ein gehendes, Andante, die getupften Basstöne formidabel, das warme Vibrato in den Violinen herzerwärmend; das hatte Seele, das lebte! Im Scherzo beeindruckten die Hörner im Trio ganz besonders, und im finalen Saltarello waren es vor allem die Holzbläser, allen voran die Flöten, die traumwandlerisch schön spielten. Und die triolisch bewegte g-Moll-Stelle im pianissimo – das macht dieser Band so schnell keiner nach.

Claudio Abbado © https://www.gramilano.com/2014/01/great-italian-conductor-claudio-abbado-dies-80/

Trotzdem blieb in mir kein Gefühl der kompletten Erfüllung. Es war alles da, und trotzdem fehlte etwas. Was? Ich vermag es nicht zu sagen. Warum bin ich bei der Italienischen mehr bei Abbado als bei Muti? Es ist wahrscheinlich sehr subjektiv, aber auch das Drumherum übersieht man halt nicht: Abbado hatte eine natürliche Aura, und bei Muti scheint mir, als genieße er es ein wenig zu sehr, gefeiert und von manchen geradezu kultisch verehrt zu werden. (Gut, das wurde Abbado auch.) Gestik und Mimik beim tosenden Applaus könnte man in Worte übersetzen mit „Ja, Ihr habt ja Recht, ich bin schon ein richtig Großer!“

Nach der Pause war er aber dann da, dieser Chicago-Sound, den das Essener Publikum schon in den Jahren 2014 und 2016 erleben konnte. Vor zehn Jahren spielte man Tod und Verklärung, und schon damals dachte ich, dass Richard Strauss ebenso wie Verdi einer der Komponisten ist, den Riccardo Muti besonders toll dirigiert.

Sun, Jan 14, 2024, Chicago Symphony Orchestra, Riccardo Muti, Conductor, 2024 European Tour, Concert in Essen, © Todd Rosenberg Photography 2024

Und da er nun in einem Alter ist, da er einfach alles dirigieren kann, worauf er gerade Lust hat, bekamen wir ein äußerst selten gespieltes Werk zu hören, nämlich die „sinfonische Fantasie“ Aus Italien. Es ist Strauss’ op. 16, das recht konventionell in vier Sätzen daherkommt und im vierten Teil das neapolitanische Volkslied Funiculì Funiculà zitert. (Auf YouTube gibt es eine Aufnahme des Liedes mit Luciano Pavarotti, leicht zu finden, und es könnte ob der interessanten Modulationen auch eine Arie aus einer Verdi-Oper sein.)

Fun fact: Ein Jahr nach der Münchner Uraufführung des Werks leitete Theodore Thomas, seines Zeichens Gründer des Chicago Symphony Orchestra, am 8. März 1888 die amerikanische Erstaufführung. Das Orchester hat also einen besonderen Bezug zu diesem Werk, ähnlich wie das Philadelphia Orchestra zu Rachmaninow.

Schon der erste Satz, Auf der Campagna, ist hörbar vom Klangmagier Richard Strauss. Beeindruckend war die Klangpracht nicht nur der Orchestrierung, sondern auch im Spiel des Spitzenorchesters: Im zweiten Satz (In Roms Ruinen) beispielsweise gibt es eine Stelle in den ersten Violinen, wo ein hohes G einem noch höheren C Platz macht. Und das war zum Niederknien: perfekte Intonation, mit ganz viel Herzblut. Der dritte Satz begann flirrend am Strande von Sorrent, und später, im gleißenden A-Dur, spürte man förmlich die warme Sonne Italiens. Mutis eleganter Dirigierstil ließ einen die Eiseskälte, die draußen herrschte, sofort vergessen. Der vierte Satz, Neapolitanisches Volksleben, verzauberte das Publikum, das natürlich mit standing ovations dankte.

Sun, Jan 14, 2024, Chicago Symphony Orchestra, Riccardo Muti, Conductor, 2024 European Tour, Concert in Essen, © Todd Rosenberg Photography 2024

Der Dank wurde erwidert mit einer Verdi-Zugabe, wie sie Muti gern und oft bringt. Diesmal war es nicht die Nabucco-Ouvertüre, sondern jene aus Giovanna d’Arco. Und der Maestro lächelte tatsächlich zum ersten Mal. Endlich!

Dr. Brian Cooper, 15. Januar 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

CD-Besprechung, Saverio Mercadante, I due Figaro, Riccardo Muti Music klassik-begeistert.de

Chicago Symphony Orchestra, Riccardo Muti, Kölner Philharmonie, 9. Januar 2019

Catalani/Strauss/Tschaikowsky, Chicago Symphony Orchestra, Riccardo Muti, Elbphilharmonie

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