Concert du 5 Septembre 2025 a 20h, Saint-Jean-de-Luz © Valentine Chauvin Festival-Ravel
Daphnis et Chloé gerät zur Sensation. Das Schönste dabei: Es gibt kaum Störungen.
Orchestre national du Capitole de Toulouse
Tarmo Peltokoski, Dirigent
Orfeón Donostiarra
José Antonio Sainz Alfaro, Chorleitung
Maurice Ravel (1875-1937) – Sites auriculaires (orch.: Kenneth Hesketh); Ma mère l’oye; Daphnis et Chloé
Saint-Jean-de-Luz, Église Saint-Jean-Baptiste, 5. September 2025, 20 Uhr
von Brian Cooper
Gefühlt jeder Mensch kennt hier Maurice Ravel. In Saint-Jean-de-Luz hängen in nahezu jedem Geschäft Plakate, überall in der Stadt gibt es Büdchen und Infostände, ein älterer Herr studiert konzentriert den Spielplan, mit Fingerchen, man spricht über den großen Sohn aus Ziburu, so der baskische Name von Ciboure gleich gegenüber.
Nun biegt das großartige Ravel-Festival allmählich auf die Zielgerade, und kurz vor Schluss gibt es Spektakuläres an einem spektakulären Ort: Maurice Ravels Ballett Daphnis et Chloé, und zwar komplett! Mit Chor! Mit Orfeón Donostiarra! Diesem Weltklassechor, das ich in meiner Erasmus-Zeit oft gehört habe. Mit großer Vorfreude betrete ich also die Église Saint-Jean-Baptiste, wo schon gestern das Orchestre National de France gastierte. Heute ist es ein anderes Nationalorchester, nämlich jenes aus Toulouse, das weiland unter Michel Plasson zur europäischen Spitzenformation wurde. Auch mit Ravel.
Es hat einen sehr jungen Chef, Tarmo Peltokoski, Jahrgang 2000. Der Finne ist zu Bemerkenswertem imstande. War Mahlers Erste in Köln noch auf hohem Niveau enttäuschend, gab er Anfang Juni in Rotterdam ein absolut überzeugendes Programm, vor dem viele zurückschrecken würden: Sibelius 4 und Schostakowitsch 14, mit der umwerfenden Asmik Grigorian, für die ich – auch – nach Rotterdam gefahren war. Und eben für Peltokoski, der sicher einer der interessantesten jungen Dirigenten unserer Zeit ist.

Hier in Saint-Jean-de-Luz hat man mich unterm INRI platziert, dem Gekreuzigten und für uns alle Gestorbenen, dessen Tod kultisch beschworen wird und ikonographisch, mit einer an Perversion grenzenden Foltergeilheit, überall präsent ist. Viele Eltern, darunter sehr liebe Menschen, schützen ihre Kinder vor allem Möglichen, haben aber kein Problem damit, sie regelmäßig einer der brutalsten Folterszenen der Menschheitsgeschichte auszusetzen. Nun ja. Gehste inne katholische Kirche, kannste auch schon mal nem INRI begegnen. Eine Packung Erdnüsse kann schließlich auch Erdnüsse enthalten.

Das Konzert beginnt mit dem kurzen Werk Sites auriculaires, in der interessanten Orchestrierung von Kenneth Hesketh – Auftrag u.a. des Ravel-Festivals und des Orchesters. Tarmo Peltokoski hebt die Arme, ein Besucher sein Smartphone. Doch zumindest an diesem Abend wird sich die Filmerei in Grenzen halten.
Das Orchester ist fabelhaft aufgelegt, spielt farbenreich, und das geht auch in Ma mère l’oye so weiter, das ich Stunden zuvor in einem absurden Konzert in der Fassung für Klavier zu vier Händen hörte. Hier erweist sich auch dieses Orchester als besonders Ravel-affin, und wie im Orchestre National de France gibt es eine Holzbläsersektion zum Niederknien. Was allein die Soloflöte an diesem Abend leistet, ist phänomenal. Ebenso etwa Oboe und Englischhorn im zweiten Teil, Petit Poucet. Großer Applaus.

Lediglich ein tuschelndes Paar stört immer wieder. Besonders die Dame hat ein großes Mitteilungsbedürfnis. Ihr Gatte verzieht sich für eine halbe Stunde in der zweiten Konzerthälfte, stellt sich zwischen mich und die junge Frau, die ich allein schon deshalb ins Herz geschlossen habe, weil sie kein einziges Mal ihr Smartphone zückt, sondern stattdessen ihren Körper sanft zur Musik wiegt und äußerst aufmerksam lauscht. Wegen der Sichtbehinderung stehen einige von uns nämlich, um die eleganten Bewegungen des Dirigenten zu sehen.
Daphnis und Chloé wird an diesem Abend zu einem Ereignis, von dem man noch mindestens zwanzig Jahre sprechen wird. Der Klang kommt zu Beginn aus dem Nichts. Der Chor singt phänomenal. Das Horn schwebt kurz über allem. Was konnte Ravel orchestrieren! Hier entsteht große Musik. Solche Konzerte sind der Grund, warum wir mélomanes weite Reisen auf uns nehmen.

Ein Mann bekommt Hunger. Seit fünf Minuten sitzen und stehen wir da und lauschen andächtig. Er hatte die ganze Pause Zeit, etwas zu essen. Aber nein: Umständlich kramt er etwas aus einer Plastiktüte (!) und beginnt zu schnabulieren. Nach zwei Minuten ist zum Glück Ruhe.
Unter Peltokoskis Händen entsteht die Evokation einer Idylle. Man hat den Eindruck, das Orchester folgt ihm gerne. Diese Musik ist herrlich, wenn sie so gut gespielt wird. Diese Idylle spürt man auch dann, wenn man Programm bzw. Handlung nicht kennt. Man merkt schnell: Es ist sehr schön an diesem Ort, der da musikalisch beschrieben, ja gemalt, wird.
Ja, auch die Berliner Philharmoniker könnten es phänomenal spielen, aber ich höre Ravel ganz besonders gern von französischen Orchestern.

Der phänomenale Chor aus San Sebastián, baskisch Donostia (daher der Name Orfeón Donostiarra), singt die chromatischen Stellen engelsgleich. Und dann kommt dieser durch und durch französische Sonnenaufgang, der den letzten Teil einleitet: Die Kirche scheint zu erstrahlen. Die danse générale ist in höchstem Maße mitreißend. Kaum ein Werk ist leidenschaftlicher, sinnlicher, erotischer als dieses.
Es gibt Riesenjubel vom ausnahmsweise fast in Gänze aufmerksam lauschenden Publikum. Dieser Abend war ein großes Fest und ein, wenn nicht der, Höhepunkt des Ravel-Festivals. Merci an alle Beteiligten.
Dr. Brian Cooper, 7. September 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Klaviermusik Ravel und Boulez, Ciboure, Église Saint-Vincent, 2. September 2025, 21 Uhr
Klaviermusik von Maurice Ravel, Hyunji Kim Ciboure, Église Saint-Vincent, 2. September 2025, 17 Uhr
Ravel-Festival 2025 Urrugne, Église Saint-Vincent, 1. September 2025