Warum man öfter mal Dvořáks vergessene Sinfonien spielen sollte

FOM Maxim Lando, Klavier, Cornelius Meister, Dirigent  Alte Oper Frankfurt, 29. September 2025

Fotos: Copyright by Sebastian Mare

Johannes Brahms
Klavierkonzert Nr. 1 d-moll op. 15

Antonin  Dvořák
Sinfonie Nr. 4 d-moll op. 13

Frankfurter Opern- und Museumsorchester
Maxim Lando, Klavier
Cornelius Meister, musikalische Leitung

Alte Oper Frankfurt, 29. September 2025

von Dirk Schauß

Manchmal erwischt es einen eiskalt: Man sitzt im Konzert, halb erwartungsvoll, halb skeptisch, und plötzlich merkt man – hoppla, das klingt ja ganz anders, als erwartet. So ging es am Montagabend in der Alten Oper. Brahms’ erstes Klavierkonzert stand auf dem Programm, jenes Ungetüm, das schon Generationen von Pianisten die Schweißperlen auf die Stirn getrieben hat. Und ausgerechnet ein 23-jähriger Amerikaner, Maxim Lando, setzte sich ans Klavier, als ob er bloß einen alten Freund treffen wollte. Keine Anspannung, keine Spur von dieser steifen „Ich spiele jetzt ein Jahrhundertwerk“-Haltung. Sondern einfach: Musik machen. Punkt.

Nun muss man dazu sagen: Dieses Konzert ist wirklich kein Spaziergang. Es hat etwas von einem Zwitterwesen – geboren aus dem Schock über Robert Schumanns Zusammenbruch, erst Sonate, dann fast Sinfonie, am Ende ein Hybrid, das nicht recht weiß, ob es Konzert oder sinfonische Schlacht ist. In Leipzig bei der Uraufführung sollen die Leute gegähnt haben. Na ja – heute weiß man: Die hatten schlicht keine Ahnung.

Und dann kam dieser Maxim Lando, der mit drei Jahren schon auf die Tasten hämmerte und hier in Frankfurt so tat, als gäbe es nichts Selbstverständlicheres, als dieses Monsterwerk zu bändigen. Er ist ein Pianist, der nicht nur spielt, sondern der ausholt, zupackt, orchestral denkt.

Seine Artikulation: glasklar. Seine Ausdauer: gefühlt grenzenlos. Der Bechstein-Flügel, auf dem er spielte, hatte dazu diesen obertonreichen, direkten Klang, der sich glänzend ins Orchester mischte – kein samtiger Steinway-Schmelz, sondern etwas Schärferes, Glänzenderes. Es passte.

Cornelius Meister am Pult – derzeit noch GMD in Stuttgart, hier als Gast – eröffnete den Abend mit entschlossener Geste. Keine zaudernde Einleitung, keine verschwurbelte Romantik. Knackige Akkorde, präzise, auf den Punkt.

Cornelius Meister (c) Sebastian Mare

Das Frankfurter Opern- und Museumsorchester (frisch von der Zeitschrift Opernwelt zum „Orchester des Jahres 2025“ gekürt, und ja, man hörte warum) folgte mit einer Wucht, die sofort klarstellte: Hier wird nicht nur geschwelgt, hier wird gedacht und erzählt.

Und dann: Lando. Sein erstes Thema im Allegro maestoso, tief, fast brummend, brachte er nicht als heroische Aussage, sondern eher tastend – wie jemand, der einem Gedanken beim Entstehen zuschaut. Im lyrischen Seitenthema, Es-Dur, wurde es richtig interessant. Die meisten Pianisten sehen da eine große Melodie, in die sie hineinträumen. Lando aber hörte Architektur. Er modellierte Stimmen, baute das kontrapunktische Gerüst frei, zeigte also: So denkt Brahms. Ein riskanter Ansatz, weil er nicht auf unmittelbaren Effekt zielt. Aber – es trug.

Maxim Lando photo credit Jan Malý

Das Adagio, heimliche Liebeserklärung an Clara Schumann, spielte Lando wie ein Gebet: innig, poetisch, ein bisschen wie ein Aquarell, das sich langsam mit Wasserfarbe füllt. Gleichzeitig schuf Meister eine Klangumgebung, die Balance atmete. Holzbläser sangen, die Streicher legten ihren Teppich aus, und dann diese Celli, diese Bässe, die das Ganze erhaben unterfütterten – wunderbar. Landos filigrane Details wurden von Meister am Pult vorbildlich aufgegrifffen.

Im Finale dann: pure Energie. Brahms’ wildes Rondo wurde zu einem Fest. Lando spielte mit orchestralem Zugriff, rhythmisch knallhart präzise, aber ohne Härte. Seine Kadenz war eine kleine Lektion in Motivarbeit – Themen blitzten auf, verknüpften sich, lösten sich wieder. Und er ließ sich feiern, nicht überheblich, sondern großzügig. Als umfangreiche Zugaben schleuderte er zwei irrwitzige Stücke in den Saal: Rossinis „Barbier“-Ouvertüre, die in seiner Version fast wie eine Tom-und-Jerry-Jagd wirkte, und dann noch die zweite Hälfte von Gershwins „Rhapsody in Blue“. Lässig, mit Spielwitz. Das Publikum tobte, Begeisterungsrufe. Kein Wunder.

Nach der Pause kam dann die eigentliche Überraschung: Antonin Dvořáks vierte Sinfonie. Wer kennt die schon? Die „Neue Welt“ natürlich, die Achte sowieso, aber die Vierte – die liegt im Repertoirekeller und fristet ein Schattendasein. Schade eigentlich, denn sie ist ein Juwel.

1874 komponiert, mitten in Dvořáks Suchbewegungen zwischen Wagner-Verehrung und eigener Stimme, bietet sie alles: melancholische Themen, klare Architektur, folkloristische Ausbrüche. Cornelius Meister dirigierte auswendig, und das machte den Unterschied. Er hatte das Werk nicht nur im Kopf, sondern im Körper und vor allem im Herzen.

Das Allegro, düster und in der gleichen Tonart wie bei Brahms, begann mit einem Thema, wie nur Dvořák es schreiben kann: melancholisch, ohne zu jammern; böhmisch, aber nicht folkloristisch im billigen Sinn. Meister legte die Exposition so frei, dass man die architektonische Anlage hören konnte, und in der Durchführung schälte er polyphone Strukturen heraus, ohne dass es jemals trocken wirkte. Das Frankfurter Orchester war in Höchstform: Streicher von gläserner Präzision, Holzbläser mit warmem Ton, Blech edel, die Pauke scharf, aber nie plump.

Das Andante sostenuto zeigte Dvořáks melodisches Genie in voller Blüte. Die Bläser stimmen Choraltöne an, Reminiszenzen an Wagners „Tannhäuser“ werden wach. Die Holzbläser sangen so schön, dass die Streicher fast neidisch hätten werden können. Und dann diese Harfe – kleine Momente des Glücks, wonnig. Eine Kostbarkeit ist dieser Satz.

Foto: Cornelius Meister (c) Sebastian Mare

Im dritten Satz, dem Allegro feroce, packte Dvořák große Trommel, Becken, Triangel und Harfe aus – eine orchestrale Extravaganz, die er sonst nie mehr in seinen Sinfonien gewagt hat und eine Huldigung an das böhmische Volkslied. Meister nutzte das mit Geschmack: nicht als Lärm, sondern als Effekt, der die Dramatik steigert. Und er traf genau den folkloristischen Ton, den das Trio verlangt – beschwingt, ohne ins Volkstümelnde abzugleiten.

Das Finale schließlich wurde zur Bündelung aller Gefühlsmomente. Meister dirigierte entspannt, herrlich gelassen, ließ dem Orchester freien Gestaltungsraum – und die Musiker dankten es. Präzision in den Streichern, farbenreiche Akzente von Holz und Blech, Spielfreude bis in die kleinste Phrase. Kein Wunder, dass das Publikum begeistert reagierte. Diese Sinfonie, die sonst kaum jemand beachtet, entfaltete sich wie ein neu entdecktes Gemälde. Und man verstand plötzlich, warum Brahms den jungen Dvořák so schätzte.

Am Ende blieb das Gefühl, einem runden, ja beglückenden Abend beigewohnt zu haben. Drei Protagonisten trugen ihn: ein junger Pianist, der Brahms ohne Ehrfurcht, aber mit großer Klarheit und Energie spielte; ein Dirigent, der Strukturalist und Gefühlsmensch zugleich ist, mit Rubato-Sinn, mit Farbenlust; und ein Orchester, das seinen Ruf als frisch gekürtes „Orchester des Jahres“ deutlich unterstrich.

Was man mitnimmt: Den Namen Maxim Lando, unbedingt. Cornelius Meister, der auswendig dirigierend Dvořák neu aufblätterte, und das Frankfurter Opern- und Museumsorchester, das mit hörbarer Freude spielte. Und die Erkenntnis, dass Dvořáks vierte Sinfonie viel öfter aufs Programm gehört. Am Ende war das Publikum jedenfalls zurecht begeistert.

Dirk Schauß, 30. September 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Maurice Ravel, Ma mère l’oye, Wolfgang A. Mozart, Klavierkonzert Es-Dur, Maurice Ravel, L’enfant et les sortilèges Alte Oper Frankfurt, 26. September 2025

LSO Sir Antonio Pappano/Lisa Batiashvili Alte Oper Frankfurt, 2. Juni 2025

Frankfurter Opern- und Museumsorchester Alte Oper Frankfurt, 26. Mai 2025

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