Victoria Leshkevich © Thomas M. Jauk/Stage Picture
„Fürcht ich kein Unglück“ steht in großen Lettern auf der Wand – und doch dominiert die Angst in der Inszenierung und verstärkt den düsteren Charakter dieses Stückes, und zwar nicht nur Blanches Angst, sondern vor allem die „Epochenangst“, die Angst vor Veränderung der Gesellschaft zum Schlechteren.
Hervorragend gespielte und gesungene Musik und eine spannungsgeladene Regie sind in Braunschweigs „Dialogues des Carmélites“ zu erleben
Francis Poulenc (1899 – 1963)
„Dialogues des Carmélites“
In französischer Sprache mit Übertiteln.
Libretto vom Komponisten
Uraufführung 1957 an der Mailänder Scala
Staatstheater Braunschweig, 15. November 2024
von Dr. Bianca Gerlich
Der Name des Titels ist Programm dieser Inszenierung: Der Dialog soll nicht abreißen. In der Entstehungsgeschichte dieser Oper ist er Jahrhunderte übergreifend und endet jäh am Ende, doch in der Braunschweiger Inszenierung wird das Publikum aufgefordert, den Dialog nicht abbrechen zu lassen, um eben Schlimmstes zu vermeiden.
Die drei Akte spielen in drei verschiedenen Zeiten, wobei sich die ersten beiden am Werk orientieren: Der erste Akt spielt im Karmel zur Zeit nach der Französischen Revolution, ganz wie von Poulenc vorgesehen. Der zweite Akt springt in die Zeit der Entstehung des Romans, den Poulenc als Vorlage verwendet hat, nämlich „Die Letzte am Schafott“ von Gertrud von Le Fort, 1931, also kurz vor Hitlers Machtergreifung, und der dritte spielt in einer dystopischen, nicht allzu weit entfernten Zukunft und könnte baldige Gegenwart werden.
Parallel dazu gibt drei Fahrzeuge: die Kutsche, auch als Erinnerung an den Unfall der hochschwangeren Mutter der Hauptfigur Blanche de la Force, die ja damit verunglückte und Blanche noch das Leben schenken konnte, aber selbst verstarb. Dies war der Grund für Blanches Trauma, das sie nun so sehr verfolgt, sodass sie sich ins Kloster der Karmeliterinnen zurückzieht.
Das zweite Fahrzeug ist ein typischer Nazi-Kastenwagen; der dritte ist ein Personenwagen mit Braunschweiger Kennzeichen, dessen Besonderheit in der Innenausstattung besteht, nämlich beklebt mit Zeitungsausschnitten rechtsradikaler Vorfälle der letzten Zeit in Deutschland, leider auch vor Ort. Ein Kameramann filmt im Innenraum, sodass wir diese Artikel, auf die Wand projiziert, gut erkennen können. Die Action Camera kommt öfter zum Einsatz, um Personen zu filmen, auch Videosequenzen werden eingesetzt, z.B. Zeitraffer-Videos zwischen Akt 2 und 3, die die Geschehnisse nach dem II. Weltkrieg bis heute aufzeigen, bis hin zu ziemlich vielen Politikern und Politikerinnen rechter Gesinnung.
Diese Inszenierung beschränkt sich also nicht auf die Handlung von Poulenc. Die Karmeliterinnen tragen auch keine typische Nonnentracht, sondern sind in verschiedene Blau-Töne eingekleidet, meistens Bluse und Rock, die eher kesse Constanze tritt in kurzer Hose und Hemd auf, die strenge Marie passend im Hosenanzug. Der religiöse Charakter des Stückes, die Kraft des Glaubens, tritt etwas in den Hintergrund zugunsten der Interpretation des Dialogs der Zeiten und der Mahnung, dass die Gefahr durch Diktatoren jederzeit besteht. Vielleicht wird ein wenig zu sehr gemahnt. Es ist sehr plakativ, dass Blanches Angst zur Angst der gesamten Gesellschaft geworden ist, eben zur Epochenangst.
Musikalisch war die Aufführung auf sehr hohem Niveau. Den meisten Applaus erhielt Alexander Sinan Binder, der seit der aktuellen Spielzeit der 1. Kapellmeister am Braunschweiger Staatstheater ist. Er führte das Orchester souverän durch das schwierige Werk. Die Musik war schier überwältigend und die fast schon programmatischen Ideen von Poulenc wurden innovativ umgesetzt. Gruselig am Ende das Schlagwerk, das das Fallen der Guillotine nachahmt, während dazu von schönster Innigkeit der letzte Choral, „Salve Regina“, von dem Ensemble der Karmeliterinnen auf dem Weg zum Schafott angestimmt wird.
Es werden zwar immer weniger Sängerinnen, aber die Intensität bleibt beinahe schon trotzig bis zum bitteren Ende erhalten, bis Blanche selbst fällt.
Die Riege der Sänger und Sängerinnen war genauso engagiert wie das Orchester. Mit spielerischer Überzeugung und schönen Stimmen agierten Victoria Leshkevich als Blanche de la Force, Nora Sourouzian als sterbende Priorin, Jisang Ryu als Blanches Vater, Matthew Peña als ihr Bruder und Juraj Hollý als Beichtvater des Karmel. Isabel Stüber Malagamba gab eine fundamentalistisch angehauchte Mutter Marie und Veronika Schäfers heller Spielsopran passte vortrefflich zur unbekümmerten Schwester Constance. Ekaterina Kudryavtseva gefiel mit ihrer wunderbar samtigen Stimmfarbe als warmherzige Madame Lidoine, die neue Priorin.
Braunschweigs „Dialogues des Carmélites“ ist überaus ambitioniert und überzeugt musikalisch. Leider war der Saal der besuchten Vorstellung nur zu ungefähr einem Drittel gefüllt. Das Engagement der gesamten Crew sowie die hohe Qualität dieser Aufführung sollten mehr honoriert werden.
An diesem Abend kam es sogar noch auf Einladung des Staatstheaters und des Braunschweiger Richard-Wagner-Verbands zu einem Gespräch mit den Sängerinnen der Hauptpartien, nämlich Victoria Leshkevich und Isabel Stüber Malagamba, und dem Dramaturgen Björn Seela.
Das lieferte einen spannende Einblick in die Probenarbeit und sorgte für eine lebhafte Diskussion.
Wer sich dieses einprägsame Theatererlebnis mit der wunderbaren Musik Poulencs, dessen „Dialogues des Carmélites“ in Braunschweig übrigens erstmals aufgeführt wird, nicht entgehen lassen möchte, hat noch fünfmal die Gelegenheit, sich das Stück hier anzuschauen.
Dr. Bianca Gerlich, 18. November 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Weitere Termine: 1. und 27. Dezember und 7., 17. und 26. Januar 2025.
Francis Poulenc, Dialogues des Carmélites Wiener Staatsoper, 28. Januar 2024 / 4. Februar 2024
Francis Poulenc, Dialogues des Carmélites Staatsoper Hamburg, 19. Mai 2022