Das Macerata Opera Festival glänzt mit einer phänomenalen „Lucia“

Gaetano Donizetti, Lucia di Lammermoor  Macerata Opera Festival, 14. August 2023

Foto © Macerata Opera Festival, Lucia di Lammermoor

Einsame Weltklasse – die Neuinszenierung von Donizettis Meisterwerk „Lucia di Lammermoor“ in der einzigartigen Arena Sferisterio der Stadt Macerata in den italienischen  Marken schlägt alles. Die auf die riesige, leere Bühne projizierten Videos des sturmgepeitschten Meeres, des gewaltigen Wasserfalls (der vom Blut eines aus Eifersucht ermordeten Mädchens blutgetränkte Brunnen beim Grab der Mutter), die Projektion einer von Krähenschwärmen gespenstisch umflatterten schottische Burgruine und des holzgetäfelten Interieurs des Schlosses der Lammermoors  ersetzen meisterhaft die Kulissen – abgesehen von vier Gestellen mit Lanzen, deren eine Lucia zum Mord an ihrem ungeliebten Ehegatten Arturo Bucklaw entwendet. Phänomenal ist nicht nur diese überaus beeindruckende Inszenierung (Regie: Jean-Luis Grinda, Bühne: Rudy Sabounghi), die als Freilichtaufführung erst ihre volle dramatische Wirkung entfaltet – Weltklasse ist diese Lucia (Ruth Iniesta), welche die berühmte Wahnsinnsarie hinreißend wie kaum eine zweite Sopranistin unserer Tage auf die Bühne bringt, Weltklasse ist der Edgardo des Tenors Dmitry Korchak und der sicherlich virtuoseste Glasharmonikaspieler (der Solist bei den Wiener und Berliner Philharmonikern, Instrumentenbauer und Musikpädagoge Sascha Reckert), der je in einer Inszenierung der „Lucia“ deren Wahnsinnsarie begleitet hat.

Gaetano Donizetti
Lucia di Lammermoor
nach “The Bride of Lammermoor” von Sir Walter Scott

Macerata Opera Festival, 14. August 2023

von Dr. Charles E. Ritterband

Dirigent: Jordi Bernàcer
Regie: Jean-Luis Grinda
Bühne: Rudy Sabounghi
Video design: Étienne Guiol
Kostüme: Jorge Jara
Glasharmonika: Sascha Reckert

Lucia: Ruth Iniesta
Sir Edgardo di Ravenswood (Lucias Geliebter): Dmitry Korchak
Lord Arturo Bucklaw (Lucias ungeliebter Gatte): Paolo Antognetti
Lord Enrico Ashton (Lucias Bruder): Davide Luciano

FORM-Orchestra Filarmonica Marchigiana

Coro Lirico Marchigiano “V. Bellini”
Chormeister: Martino Faggiani

Eine Spitzenbesetzung: Die junge Spanierin Ruth Iniesta bringt als Lucia eine Stimme voll Leucht- und Strahlkraft auf die Bühne, welche in dieser Partie (in der man ja alle legendären Sängerinnen, von Callas bis Gruberova, in Erinnerung hat) heute möglicherweise einzigartig ist. Schon ihr schieres Durchhaltevermögen durch die zerklüftete Gebirgslandschaft der Koloraturen in den beiden Teilen der berühmten Wahnsinnsarie – ganz abgesehen von der zarten Einfühlsamkeit in diese tragische Figur – nötigte dem Publikum der Arena von Macerata höchsten Respekt und minutenlangen  Applaus ab. 

Traumteam

Aber auch ihr kongenialer Partner, der russische Tenor und Dirigent Dmitry Korchak entfachte als Sir Edgardo di Ravenswood Begeisterungsstürme mit seiner samtig weichen Stimme erfüllt mit herrlichem tenoralem Schmelz, lyrischer Intensität und einer Stärke, die ihn mühelos das gewaltige Halbrund der Arena akustisch (selbstverständlich ohne jegliche Mikrophon-oder Lautsprecherverstärkung) ausfüllen ließ. Der aus der italienischen Region Kampanien stammende Bariton Davide Luciano gab Lord Enrico Ashton, den Bruder der Lucia, mit wunderbar kantabler Tiefe. Paolo Antognetti gab den zweiten Tenor dieser Oper, Lord Arturo Bucklaw (Lucias ungeliebter Gatte) in seinem eher kurzen Auftritt mit geschmeidiger, warmer Stimme. Das Hausorchester unter der Stabführung des vielseitigen spanischen Dirigenten Jordi Bernàcer spielte mit plastischem Klang und harmonischem Einfühlungsvermögen.

Foto © Macerata Opera Festival, Lucia di Lammermoor

Die Glasharfe als Klang des Wahnsinns

Ich war erleichtert – und dann restlos begeistert – darüber, dass nicht wie in vielen Aufführungen Lucias Wahnsinnsarie im Dialog mit einer Flöte sondern der unendlich wirkungsvolleren, aber natürlich wesentlich aufwendigeren Glasharfe begleitet wurde. Der Solist Sascha Reckert, der in dieser Aufführung dieses wunderbare, seltene und zugleich so diffizile Instrument mit atemberaubender Virtuosität und einzigartiger Musikalität bediente, hatte selbst Pionierarbeit für das Aufleben dies fast in Vergessenheit geratene Glasharfe geleistet. In seiner Werkstatt restauriert Reckert alte Glasinstrumente für Wieder- und Erstaufführungen. So kam die Glasharfe auch, was eher wenig bekannt ist, als Originalinstrumentierung der „Frau ohne Schatten“ (Salzburger Festspiele 1991) und Carl Orffs „Gisei“ zum Einsatz. Das Instrument erhält seinen einzigartigen Klang, durch die Schwingungen, welche von der Berührung  der mit Wasser gefüllten Gläser durch Hände und Fingerspitzen hervorgerufen wird. Erfunden wurde das Instrument 1761 vom Erfinder und späteren Präsidenten der USA, Benjamin Franklin; erwähnt wurde es jedoch bereits 1596 in einem Sammlungsinventar. Als Franklin 1790 starb, soll es weltweit bereits über 5000 Glasharmonikas gegeben haben.

Foto © Macerata Opera Festival, Lucia di Lammermoor

Der umstrittene Wissenschaftler Franz Anton Mesmer, der als „Doctor Magneticus“ in Mozarts „Così“ zu humorvollen Ehren kam, hatte Glasharfen für seine Hypnose-Therapien („Mesmerismus“) verwendet. Hier finden wir wohl erstmals die Querverbindung zwischen Glasharfe und Geisteskrankheit, die bei Verwendung der Glasharfe in „Lucia“ die zentrale Rolle spielt. Nichts ist meines Erachtens suggestiver für die geistige Verwirrung der Lucia, die ja immerhin zum Mord führt, als der ätherische, überirdisch anmutende Klang dieses Instruments.

Foto © Macerata Opera Festival, Lucia di Lammermoor

Donizetti bediente sich seiner (zugleich mit der auch in der „Lucia“ ausgiebig zum Einsatz kommenden Harfe) 1829 in seiner Oper „Elisabetta al Castello di Kenilworth“. Donizetti war offenbar begeistert von der Idee, die Glasharfe auch in der Lucia als ideale akustische Verkörperung des Wahnsinns einzusetzen. Doch als die Premiere der Oper näher rückte, ersetzte Donizetti bemerkenswerterweise selbst die Glasharfe durch die Flöte – wie dies auch heutzutage in so vielen Aufführungen (der Einfachheit halber) leider der Fall ist. Möglicherweise ist seinerzeit Donizetti der Musiker abhanden gekommen, der die Glasharfe zu betätigen  hatte – offenbar hatte dieser noch vor der im Teatro San Carlo 1835 zu Neapel stattfindenden Uraufführung vorzeitig die Stadt verlassen.

Foto: (c) Macerata Opera Festival, Lucia di Lammermoor

Doch die Verbindung zwischen Glasharfen und Wahnsinn ist mehr als nur eine akustisch-suggestive. In Amerika wurde das Instrument mit seinem überirdischen, ja gespenstischen  Klang bisweilen mit Hexerei in Verbindung gebracht. Glasharmonikaspieler sollen bisweilen in Wahnsinn verfallen sein. Eine Theorie besagt, dass das früher in Gläsern verwendete oder zur Markierung der Töne mit bleihaltiger Farbe aufgemalte Markierungen zu Geisteskrankheit geführt haben könnte. Es gibt Theorien, nach denen Beethovens Tod durch eine Bleivergiftung  herbeigeführt wurde. Auch Beethoven soll sich ja mit Glasharfen beschäftigt haben. Der Bleigehalt in den – wissenschaftlich analysierten – Haaren Beethovens soll sich auf das Hundertfache des normal zu erwartenden Bleigehalts belaufen haben.

Dr. Charles E. Ritterband, Macerata, 14. August 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Giuseppe Verdi, La Traviata Macerata Opera Festival, 13. August 2023

Macerata Festival 2023, Carmen-Filmabend Teatro Lauro Rossi, 11. August 2023

Macerata Opera Festival 2023, Georges Bizet, Carmen, Macerata Festival, 6. August 2023

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