Foto: Wilfried Hösl (c)
Gaetano Donizetti, Lucrezia Borgia
Bayerische Staatsoper, München, 27. April 2018
von Raphael Eckardt
Wenn die slowakische Sopranistin Edita Gruberová, 71, in der Titelrolle einer Donizettioper zu hören ist, steht Münchens Opernszene meistens Kopf. Nicht nur, weil sie mittlerweile seit unglaublichen 50 Jahren auf den Bühnen dieser Welt regelmäßig für musikalische Furore sorgt, sondern auch, weil sie dank ihrer andauernden Spezialisierung im belcanto-Repertoire interpretatorische Meisterleistungen vollbringt, die nahezu einzigartig sind. Wendigkeit und Klangfülle in der Ausführung von Koloraturen vereint Gruberová ebenso glänzend wie technisch anspruchsvolle Legatophrasen mit Staccatopartien in beeindruckend hohen Lagen. Da verwundert es wenig, dass auch an diesem Aprilabend in München eine Lucrezia Borgia erwartet wurde, die nicht nur abliefert, sondern auch mit dem enormen Druck einer solch teilweise gar überzogenen Erwartungshaltung umzugehen weiß.
Die Inszenierung von Christof Loy, die 2009 zum ersten Mal am Bayerischen Nationaltheater zu bestaunen war, lebt von konzipiertem, hoch durchdachtem Minimalismus. Ein Männerchor, schwarz gekleidet auf der Bühne schlendernd, besingt eine gefährlich anmutende Lucrezia Borgia: Da wird ein szenischer Mythos geschaffen, ein Bild voller Intrigen! An Don Alfonsos Hof sind riesige Lettern zu sehen: LUCREZIA BORGIA. Als das „B“ von Gennaro im ersten Akt plötzlich herabgerissen wird, ist jedem klar: Loy entstellt nicht nur Lucrezias Wappen auf feinfühlige, metaphorische Art und Weise, es geschieht auch zu einem auffallend frühen Zeitpunkt in Donizettis Oper.
Das Minimalistische in Loys Inszenierung sollte Gruberová an diesem Abend zugute kommen. Die slowakische Bühnenveteranin mag in ihrer Karriere an einem Punkt angekommen sein, an dem sie nicht mehr in der Lage ist, jeden Ton mit dieser akkuraten Brillanz zu singen, die man in vergangenen Tagen von ihr gewohnt war. Vor allem die tiefen Passagen wirken merklich angestrengt. Dennoch hat Gruberovás Bühnenpräsenz etwas, das für die Rolle dieser Lucrezia Borgia unverzichtbar scheint: Eine wild verwirbelte Aura legt sich durch den Opernsaal. Goldschlingen verweben sich zu beeindruckenden Mustern. Alles schwingt, alles bewegt sich! Plötzlich rasen mächtige Klangwände auf das Publikum zu. Manch einer will losschreien, manch einer ist stumm geworden!
Wieder einmal ist klar: Gruberová besitzt die einzigartige Fähigkeit, verschiedene Emotionen einer Figur durch eine unglaublich nuancenreiche Klangkontrolle ihrer Stimme in ästhetischer Perfektion auszudrücken. Da wird jedes Wort, jede Textphrase musikalisch verarbeitet. Nichts überlässt Gruberová an diesem Abend dem Zufall: Elegante, aber dennoch durchdringende hohe Passagen verweben sich mit rauer, angestrengter Tiefe. Es entsteht ein Bild voller Leidenschaft, ein Bild voller Lebensfreude: Bereits ihre Auftrittsarie ist herzergreifend: Zärtlich scheint Gruberová in einem bunten Ballon über toskanischer Landschaft zu schweben. Alles blüht, alles duftet, alles wirkt unbeschwert. Schwerelosigkeit durchwebt den Saal und zieht manch feine Dame und manch feinen Herrn im Publikum unaufhaltbar in ihren Bann. Mein lieber Freund, das ist eine beeindruckende musikalische Leistung! Chapeau, Frau Gruberová!
Auch sonst war die musikalische Darbietung dieses Abends durchweg stark. Der Dirigent Friedrich Haider, der in München zuletzt bereits mit der Operette „Die Fledermaus“ von Johann Strauss musikalisch vollends überzeugt hatte, sollte auch diesmal brillieren: Das Präludium in wohl überlegtem Tempo beginnend, treibt Haider das Orchester – auch mit gekonntem Einsatz des Gesanges – zu Höchstleistungen an. Furiose Trompetenmotive wechseln sich mit herrlich reißenden Streicherströmen ab. Hier eine feine Akzentuierung, dort ein markanter Einschnitt: Haider gibt sich als Konstrukteur von Donizettis Musik. Im dramatischen Finaltrio am Ende des ersten Satzes scheint ein musikalisches Level erreicht, das nicht nur für die Münchner Oper ungewöhnlich überragend war, sondern auch weltweit so in weiten Breiten seinesgleichen suchen dürfte.
Selbiges gilt für den Männerchor: Die szenischen Interaktionen geschickt handhabend, gelingt eine intonatorisch und interpretatorisch wirklich überzeugende Leistung. Das vielleicht wichtigste aber ist an diesem Abend die Tatsache, dass der Münchner Opernchor endlich seine rhythmischen Problematiken vergangener Tage beigelegt zu haben scheint. Da wurden einige Opern rhythmisch ein wenig versemmelt in der bayerischen Landeshauptstadt. An diesem Abend ist davon nichts zu hören! Alles fließt, alles treibt im Takt dahin, alles wirkt rund und in sich stimmig. Bravo!
Juan Diego Flórez verkörpert einen wundervollen und jugendlichen Gennaro, der sich auf weichen Wolken treibend sanft über das Orchester zu legen schien. Mit herrlich facettenreicher Dynamik gelingt Flórez das, was in dieser Rolle wahrlich nicht jedem gelingt: Trotz schauspielerisch anspruchsvoller Raffinesse ist da eine gesangliche Leichtigkeit zu spüren, die auch durch klare Phrasierung und Akzentuierung überzeugt. Ja, Flórez ist da in einem Zug mit Haider zu nennen: So durchdrungen hat Donizettis Musik auch in München in den vergangenen Jahren nicht jeder!
Ähnliches gilt für Franco Vassallo als Don Alfonso: Stimmlich geschickt weichzeichnend, verkörpert der Italiener einen Alfonso, der zwar etwas ecken- und kantenarm anmutet, sich aber keineswegs musikalisch langweilig zeigt. Immer wieder sind da neue Farbsphären zu erkennen, die sich elegant zu regenbogenartigen Mustern verwinden. Und vielleicht ist es gerade Vassallo, der diesen Abend so einzigartig macht: Weil er die klar definierten Akzentuierungen seiner Mitstreiter gekonnt abrundet – wie ein Steinmetz, der die letzten Kurven einer beeindruckenden Marmorfigur ausfeilt.
Mit langen und stehenden Ovationen geht in München ein denkwürdiger Opernabend zu Ende. Manch einer fühlt sich wohl an 2014 erinnert, als Gruberová – bereits damals als Lucrezia Borgia – zum 40. Bühnenjubiläum an der Staatsoper versprach, noch viele weitere Jahre auf der Bühne zu brillieren. An diesem Abend lässt sich festhalten: Frau Gruberová hat ihr Versprechen gehalten! Eine wahre Meisterin der Kunst…
Raphael Eckardt, 28. April 2018, für
klassik-begeistert.de
Foto: Wilfried Hösl
Musikalische Leitung Friedrich Haider
Regie Christof Loy
Bühne Henrik Ahr
Kostüme Barbara Drosihn
Licht Joachim Klein
Choreographische Mitarbeit Thomas Wilhelm
Dramaturgie Yvonne Gebauer
Dramaturgie Andrea Schönhofer
Chor Stellario Fagone
Don Alfonso Franco Vassallo
Donna Lucrezia Borgia Edita Gruberová
Gennaro Juan Diego Flórez
Maffio Orsini Teresa Iervolino
Jeppo Liverotto Joshua Owen Mills
Don Apostolo Gazella Christian Rieger
Ascanio Petrucci Andrea Borghini
Oloferno Vitellozzo Matthew Grills
Gubetta Alexander Milev
Rustighello Dean Power
Astolfo Callum Thorpe
Unterschiedlicher können Kritiken nicht sein – siehe heutige Ausgabe vom onlinemerker – Wien.
Hans-B. Volmer
Ich beurteile Leistung in erster Linie nach 2 (!!) Kriterien: Das eine ist technische Perfektion, über die lässt sich auf den ersten Blick nicht besonders streiten (in diesem Fall scheinbar doch) – und das andere ist musikalische Interpretation. Ich sehe Frau Gruberova in beiden Kategorien immer noch auf höchstem Niveau – vor allem wenn man bedenkt, dass sie seit unschlagbaren 5 Dekaden auf den besten Bühnen dieser Welt anzutreffen ist. Rezensionen sind in gewissem Sinne natürlich immer etwas Subjektives, das von Emotionalität, Begeisterung etc. geprägt ist. Das Schöne ist: Wenn es nicht so wäre, gäbe es auf dieser Welt eine Hand voll Künstler und der Rest hätte keine Chance. Maria Steinhilber und ich sind beide Personen, die in erster Linie praktizierende Musiker sind und nur in zweiter Linie Musikwissenschaftler und Theoretiker. Aus diesem Grund urteilen wir über Musiker auch „von Musiker zu Musiker“. Und wenn dann jemand mit 71 Jahren so eine Leistung bringt, muss man sich einfach verneigen! Ganz einfach, ganz neidlos, ganz bewundernd. Das mache ich aus voller Überzeugung, und das werde ich auch aus voller Überzeugung weiter so handhaben! Donizetti hat Frau Gruberova vor allem musikalisch brillant gesungen. Einfach auch aus dem Grund, weil es gut tut, derartig tiefgründige Interpretationen in einer musikalischen Welt der „glattgebügelten technischen Perfektion“ zu hören.
Raphael Eckardt