Foto: Cecilia Bartoli (Alcina), Tänzer und Chor
© Salzburger Festspiele / Matthias Horn
Georg Friedrich Händel, Alcina
Salzburger Festspiele, Haus für Mozart, 10. August 2019
von Jürgen Pathy
Sommerzeit ist Festspielzeit. Nirgendwo anders haben diese Worte mehr Bedeutung als in Salzburg. Für wenige Wochen im Jahr verwandelt sich das „liebenswerte Kaff“ (Zitat: Helga Rabl-Stadler) an der Salzach zur Metropole der Kunst – und das Haus für Mozart in diesem Jahr zu einer Insel der Glückseligen.
Was Regisseur Damiano Michieletto, 44, und der musikalische Leiter Gianluca Capuano mit der Händel-Oper „Alcina“ dort auf die Bühne gezaubert haben, übertrifft selbst die kühnsten Erwartungen. Müsste Erlebtes mit einem Wort umschrieben werden, sensationell träfe den Nagel auf den sprichwörtlichen Kopf. Angefangen von der Regie übers Bühnenbild und Lichtdesign bis hin zum sensationellen Cast auf der Bühne, alle gemeinsam verwandeln sie das Haus für Mozart in einen Ort der Magie.
Anders als im Libretto, das auf Ludovico Ariostos Epos „Orlando furioso“ basiert, spielt die Handlung jedoch nicht am Originalschauplatz. Der Venezianer Michieletto, der bereits 2012 sein Regiedebüt in Salzburg feierte, verlegt Alcinas Zauberinsel in ein geheimnisvolles Hotel, in dem die Gäste wie in einer Falle hängen bleiben. Das Bühnenbild ist geprägt von seltsamen Wesen, die hinter einem riesigen Spiegel, der die Bühne teilt, dahinsiechen. Die düstere Beleuchtung und mit Äxten bewaffnete Protagonisten tun das Übrige, um dieses Etablissement in eine Art Horror-Hotel zu verwandeln. Erfolgreiche Filmklassiker wie Alfred Hitchcocks „Psycho“ oder Stanley Kubricks „Shining“ lassen grüßen.
Um diese makabre Illusion jedoch nicht zur Realität werden zu lassen, sollten junge Burschen vielleicht nicht mit Äxten bewaffnet von der Bühne stürmen. Nicht auszumalen, wie das hätte enden können, wäre der Wiener Sängerknabe Sheen Park im Eifer des Gefechts mit der Riesenwaffe in der Hand doch beinahe zu Fall gekommen.
Immerhin dürfte der Mordsprügel kein harmloses Requisit sein, hat ihn Alcina einige Momente zuvor doch in rasender Wut in den Boden gerammt. Dennoch mag beim Gesang der alten hässlichen Vettel, deren Schönheit sie nur ihren Zauberkünsten zu verdanken hat, keine Furcht aufkommen. Trotz all der Hexerei, Verführung und Täuschung überwiegt letztendlich ein Gefühl: Mitleid!
Vor allem aufgrund der erschütternden Darbietung von Cecilia Bartoli, 53. Noch nie zuvor hat man mit einer Opernfigur derart mitgelitten, wie mit dieser Alcina, die vom Anfang bis zum Ende nichts mehr fürchtet als den Verlust der ewigen Jugend und der Liebe. Wenn die Bartoli, deren Stimmumfang über mehr als zweieinhalb Oktaven reicht, zu einer ihrer sechs Arien ansetzt, dann stockt allen Anwesenden der Atem.
Wer nicht bereits zuvor mit den Tränen zu kämpfen hatte, um den ist es spätestens nach der Arie „Ah! Mio Cor! Schernito sei!“ geschehen. Mit einer Ruhe und Sorgfalt, die ihresgleichen sucht, entfaltet die gebürtige Römerin gewölbte Gesangslinien, lässt sie im bezauberndsten Mezza Voce erblühen, und genauso magisch wieder ruhevoll ausklingen. Bei Klassik-begeistert.de schwärmt oft einer von „Magic-Anna“ – das ist Magic-Cecilia!
Nicht weniger magisch und beseelt erweist sich Philippe Jaroussky, 41, der letztendlich noch größeren Applaus erntet als del grande Bartoli. In der Partie des Ruggiero, die Händel für den Starkastraten Giovanni Carestini schrieb, stellt der Mann mit der Engelsstimme seine enorme sängerische Bandbreite unter Beweis. Egal ob stimmlich bewusst zurückhaltend wie im ersten Akt, mit voller Inbrunst im zweiten Akt oder mit technisch außerordentlich schwierigen Koloratur-Girlanden im dritten Akt, dieser Mann ist ein Geschenk Gottes. Gesegnet fühlen dürfen sich alle, die den sinnlichen Ergüssen dieser edlen Falsett-Stimme jemals haben lauschen dürfen.
Tenor Christoph Strehl, 51, rundet den Sinnesrausch ab, lässt anfangs jedoch einiges an Leidenschaft vermissen. Die schwedische Mezzosopranistin Kristina Hammarström zeigt sich technisch äußerst versiert, ohne als Bradamante jedoch großartig zu berühren.
Ganz anders Sopranistin Sandrine Piau, 54, die als Morgana ihrem Liebesschmerz in der Arie „Credete al mio dolore“ mehr als glaubhaft Ausdruck verleiht und wenn nötig auch dramatischere Töne anklingen lässt. Als Melisso überzeugt der britische Bass Alastair Miles mit einer profunden, virilen Stimme.
Heimlicher Star des Abends ist jedoch das Barockensemble „Les Musiciens du Prince-Monaco“. Im Frühjahr 2016 auf Cecilia Bartolis Initiative gegründet, hat sich das junge Ensemble bereits zu einem erstklassigen Klangkörper entwickelt. Unglaublich lebendig, durchsichtig und abwechslungsreich führt Gianluca Capuano das Ensemble durch dieses Händel’sche Meisterwerk. Weit und breit kein Anflug von Langeweile, die bei Barockopern immer droht.
Mögen die Karten bei den Salzburger Festspielen, die sich zu 85 Prozent aus Kartenerlösen finanzieren, noch so teuer sein, sie sind jeden Cent wert! Es mag zwar andere bedeutende Musikfestivals geben, doch bei keinem anderen ist der Mythos so lebendig, nirgendwo spürt man die Aura der Großen so stark.
Und wer mit offenen Augen durch das Festspielgelände zieht, könnte der attraktiven „Buhlschaft“ Valery Tscheplanowa samt vierbeiniger Begleitung über den Weg laufen – reizender Smalltalk inklusive –, Intendant Markus Hinterhäuser bei der Pause erwischen, oder Starregisseur Peter Sellars emsig am Festspielhaus vorbeihuschen sehen. Bei den Salzburger Festspielen ist man mittendrin, statt nur dabei.
Jürgen Pathy (klassikpunk.de), 11. August 2019, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Gianluca Capuano, Musikalische Leitung
Damiano Michieletto, Regie
Paolo Fantin, Bühne
Agostino Cavalca, Kostüme
Alessandro Carletti, Licht
rocafilm, Video
Thomas Wilhelm, Choreografie
Christian Arseni, Dramaturgie
Cecilia Bartoli, Alcina
Philippe Jaroussky, Ruggiero
Sandrine Piau, Morgana
Kristina Hammarström, Bradamante
Christoph Strehl, Oronte
Alastair Miles, Melisso
Sheen Park (Wiener Sängerknabe), Oberto