Foto: © Falk von Traubenberg
Badisches Staatstheater Karlsruhe, Premiere: 14. Februar 2020
Georg Friedrich Händel, Tolomeo. Re D’Egitto
von Kirsten Liese
In den vergangenen Jahren sah man zahlreiche berührende Aufführungen von Georg Friedrich Händels Opern. Aber an eine Produktion der Händelfestspiele Karlsruhe, den Riccardo Primo im Jahr 2014, erinnert man sich besonders gerne. Der Franzose Benjamin Lazar hatte ihn poetisch inszeniert, und zwar mit echtem Kerzenlicht, prächtigen Kostümen und historischer Gestik.
Insofern war ich fast enttäuscht, als ich dem Programmbuch der jüngsten Händelfestspiele Karlsruhe entnahm, dass Lazar seine jüngste Inszenierung des Tolomeo unter Einsatz von Videoprojektionen ästhetisch anders ausgerichtet hat. Die Enttäuschung wich jedoch schnell einer positiven Überraschung, zaubert Lazar doch unter dezentem Einsatz bewegter Bilder von Meereswellen gekonnt Poesie auf die Bühne. Mal ruhig, mal bewegter, mal stürmisch unterstreichen sie die Emotionen der Figuren.
Über drei Akte hätten sich diese Effekte freilich leicht abnutzen können, aber davor bewahrt sie eine geschickte Dramaturgie. Im ersten Akt nämlich ist das Meer noch gar nicht zu sehen. Da zeigt Adeline Carons Bühne im Hintergrund nur eine Fassade mit vielen geschlossenen Türen. Erst im zweiten Akt geben sie geöffnet den Blick auf die Wellen frei. Solche Impressionen harmonieren trefflich mit der Handlung und der Musik, in der es überwiegend sehr lyrisch zugeht.
Den unglücklichen Titelhelden Tolomeo hat es an die zypriotische Küste verschlagen. Von seiner Mutter Cleopatra verraten, vom Thron gestoßen und um seine Verlobte Seleuce trauernd, die er tot glaubt, will er sich im Exil das Leben nehmen. Doch gerade in dem Moment wird er auf einen Schiffbrüchigen aufmerksam, den er als seinen bevorzugten Bruder Alessandro erkennt, vor dem er flieht.
Tolomeos unglückliche Situation spitzt sich zu, als sich Elisa, die Schwester des Zypernkönigs Araspe, ein Auge auf ihn wirft und mit allen Mitteln versucht, ihn zur Liebe zu zwingen.
Józef Orlinski, derzeit einer der gefragtesten Countertenöre in der Barockoper, scheint die Titelpartie wie auf den Leib geschrieben. Strahlend, schlank und schön tönt seine Stimme im Falsett, mit anrührenden Pianotönen wirkt er wie die Sanftmut in Person. Und das, obwohl ihm übelst mitgespielt wird. Elisa nutzt ihre Macht, um ihn vor eine grausame Wahl zu stellen: Entweder Tolomeo verstößt Seleuce und unterwirft sich ihrem Begehren oder er und Seleuce müssen sterben.
Aber selbst solchen existenziellen Bedrohungen können diesen edlen Charakter in seiner ganzen Standhaftigkeit nicht umstimmen: „Ich bin wie ein Fels in der Brandung, der die Wellen braucht und ihren Groll nicht fürchtet“, singt Orlinski in einer seiner virtuosesten Arien mit gestochen scharfen Koloraturen.
Orlinski erweist sich als ein Meister der Affekte, rührt in einem schwermütigen Lamento wie dem „Komm, lieber Schatten“ ebenso innig an wie im Duett mit Seleuce „Ich verliere dich unter größten Qualen und kann dir nur noch Lebewohl sagen.“
Aber natürlich wird das Liebesdrama keinen tragischen Ausgang nehmen, kommt doch mit seinem Bruder Alessandro, der sich wiederum in Elisa verliebt, ein weiterer edler Held ins Spiel, der dafür sorgt, dass sich die Liebeswirren zu aller Zufriedenheit auflösen.
Der chinesische Countertenor Meili Li singt diesen Helden, der in Elisas Auftrag die unerwünschte Nebenbuhlerin Seleuce töten soll, ihr stattdessen aber zur Flucht verhilft, mit vergleichbar schönen, luziden feinen Stimmgaben.
Mit so exquisiten Primadonnen, wie sie Händel in Gestalt von Francesca Cuzzoni und Faustina Bordoni neben dem Kastraten Senesino zur Uraufführung seines Tolomeo, Re D’Egitto, 1728 in London zur Verfügung standen, kann Karlsruhe zwar nicht ganz aufwarten. Louise Kemény als Seleuce und Eléonore Pancrazi als gnadenlose Furie singen ihre Parts allemal achtbar, zur Premiere aber doch mit gelegentlichen Schärfen.
Die Stärken beider Sängerinnen liegen im musikalischen Ausdruck: Am schönsten, weil zärtlichsten gelingen der Britin Kemény Arien, in denen sie ihrem Kummer oder ihrer Liebe Raum gibt („Möge meine Seele endlich Frieden finden“, „Wo ist mein Schatz, Götter des Waldes?“) Der korsische Mezzo Pancrazi läuft, mit dem entsprechenden Temperament gesegnet, in ihren Rachearien zur Hochform auf, in denen sie vor allem eine sehr kultivierte Mittellage hören lässt („Ich verachte primitive Liebe und falsche Schwüre“).
Dritter im Bunde der exquisiten Männerstimmen ist der Australier Morgan Pearse mit seinem mächtigen Bariton in der kleineren Partie des König Araspe.
Die Qualitäten der Regie liegen in ihrer Schönheit, Dezenz, Poesie und Fantasie. So sparsam die Ausstattung auch anmutet: In jedem Akt gibt es eine bildliche Veränderung.
Für den dramatischen Höhepunkt hat sich Lazar etwas ganze Besonderes ausgedacht: Da taucht die Meereslandschaft nach unten ab und sichtbar wird eine surreale Unterwasserwelt mit vom Bühnenboden herabhängenden Dutzenden weißer Quallen.
Tolomeo meinte in dieser Szene eigentlich über einen giftigen Trank zu Tode zu kommen. Aber stattdessen hat ihn ein Schlafmittel nur in einen Traum versetzt. Zugleich lässt sich mit der Unterwasserlandschaft auch ein Wald imaginieren, in dem Alessandro Seleuce entführt, um sie aber entgegen Elisas Anweisungen zu befreien. Am Ende wird natürlich alles gut, wenn dramaturgisch auch etwas unglaubwürdig und märchenhaft.
In den verdienten Premierenjubel mischten sich auch viele Bravos für die hoch engagierten und mit Verve aufspielenden „Deutschen Händel-Solisten“ unter Federico Maria Sardelli.
Kirsten Liese, 17. Februar 2020, für
klassik-begeistert.de
Tolomeo: Jakub Jozéf Orlínski
Seleuce: Louise Kemény
Elisa: Eléonore Pancrazi
Alessandro: Meili Li
Araspe: Morgan Pearse
Musikalische Leitung: Federico Maria Sardelli
Regie: Benjamin Lazar
Bühne: Adeline Caron
Deutsche Händel-Solisten