Die English National Opera fasziniert mit einer fulminanten „Carmen“

Georges Bizet, Carmen  English National Opera, 1. Februar 2023

Die erste Premiere der Spielzeit 2023 der English National Opera im prunkvollen London Coliseum hat die sehr hohen Erwartungen, welche man seit jeher an die herausragende ENO stellt, einmal mehr vollumfänglich erfüllt: Diese „Carmen“ ist fulminant – musikalisch hinreißend, schauspielerisch faszinierend und in der Inszenierung herausragend. Diese wohl meistgespielte aller Opern (und vielleicht auch eine der allerbesten) wirkt in dieser durch und durch frischen Produktion neu und vital, in keiner Weise abgegriffen oder – wie in so vielen Inszenierungen – trivial. Diese Inszenierung ist intelligent, ausgefeilt bis ins letzte Detail, und sie hält die Zuschauer trotz des allseits wohlbekannten Inhalts dieser Oper von der ersten bis zur letzten Sekunde in Atem. Gesanglich hervorragend, ein temperamentvolles und zugleich präzises Orchester unter der souveränen Stabführung von Kerem Hasan.


Georges Bizet

Carmen
Libretto: Henri Meilhac und Ludovic Halévy.
Englische Übersetzung: Christopher Cowell

Regie: Calixto Bieito
Musikalische Leitung: Kerem Hasan
Chorleitung: Mark Biggins
Bühne: Jamie Manton

Carmen: Ginger Costa-Jackson
José: Sean Panikkar
Escamillo: Nmon Ford
Micaëla: Carrie-Ann Williams

Wiederaufnahme von 2012 (Wiederaufnahme-Regie Jamie Manton), Koproduktion mit Den Norske Opera

English National Opera, 1. Februar 2023


von Dr. Charles E. Ritterband (Text und Fotos)

Man hatte in den letzten Monaten allen Grund, um die Zukunft der großartigen English National Opera (ENO) an ihrem Londoner Stammsitz, im fantastischen London Coliseum (dem größten Theater der Kulturmetropole an der Themse) zu bangen: In einer kaum nachvollziehbaren Aufwallung an falschverstandener „political correctness“ (die hier als Bemühen um Gerechtigkeit gegenüber den ärmeren Regionen Englands aufmarschierte) setzte der Arts Council England (ACE) die ENO in geradezu erpresserischer Weise unter Druck: Der Company wurde auferlegt, aus London wegzuziehen (genauer: ins mehrere Bahnstunden entfernte Manchester), um weiterhin von den Subventionen in zweistelliger Millionenhöhe zu profitieren.

Das führte zu einem Aufschrei in der Londoner Kulturwelt – immerhin ist die ENO neben der Royal Opera (ROH) DAS große Opernhaus, und mit ihrem Prinzip der wesentlich preisgünstigeren Tickets und dem Prinzip, sämtliche Opern in englischer Sprache aufzuführen, die populäre Alternative zur ROH. Dass nun der ENO trotz all ihrer erfolgreichen Bemühungen, Oper in weiten, weniger vermögenden Kreisen zugänglich zu machen, der Dolch an die Brust gesetzt wurde (um es theatralisch zu formulieren) stieß auf Unverständnis, und, mehr noch, auf lautstarke Proteste.

Dadurch ließ sich der Arts Council am Ende zu einem Kompromiss bewegen – ein Aufschub. Die ENO erhält weiterhin ihre Subventionen in Höhe von 12,8 Millionen Pfund Sterling jährlich, allerdings mit der Auflage, weiterhin den Umzug nach Norden vorzubereiten, wenn sie auch künftig in den Genuss dieser überlebenswichtigen Finanzspritze kommen will. Man wird sehen. Ein Jahr geht schnell vorbei, aber so wie sich das politische Karussell Englands in immer atemberaubenderen Tempo dreht, so lässt sich kaum prognostizieren, wie die Dinge am Ende des Jahres aussehen werden. Jedenfalls zittert man als ein in London niedergelassener Opern-Enthusiast um die Zukunft der ENO an der Themse. Denn ein Trip für eine Oper nach Manchester ist nicht gerade die einfachste Sache der Welt.


Hommage an Peter Brook

Foto. de.wikipedia.org

Als ich selbst vor Jahren noch Regie führte (in einem begnadeten Laientheater) war der legendäre englische Theater- und Filmregisseur Peter Brook, der erst kürzlich, 2022 im Alter von 97 Jahren verstarb, mein „Hero“ und theatralisches Vorbild. Vor allem sein meisterhaftes Werk, dessen Titel seit Jahrzehnten zum Motto für zahlreiche Inszenierungen geworden ist: „The Empty Space“ – der leere Raum.

 

Der Regisseur dieser „Carmen“, der aus der Region Galizien stammende spanische Regisseur Calixto Bieito, hat hier – zweifellos bewusst – die Maxime von Peter Brook szenisch umgesetzt: Der leere Raum. Ohne dass dies im Programmheft auch nur erwähnt wurde, ist es klar: Seine Inszenierung verzichtet auf jegliches Bühnenbild – im ersten Akt ist da nur eine ziemlich ramponierte Telefonkabine in der Carmen ihren berühmten Auftritt mit dem Lied über die „Liebe, die vom Zigeuner stammt“ abwartet, daneben, als Symbol des Militärlagers, ein einsamer Flaggenmast, der irgendwie an einen Galgen erinnert. Die Kneipenszene im nächsten Akt spielt sich auf einer ramponierten Mercedes-Limousine aus den 70er Jahren ab und das Zigeunerlager, bei dem man eine dramatische Bergkulisse gewohnt ist, besteht aus einer ganzen Flotte schrottreifer Mercedes-Straßenkreuzer (das traditonell bevorzugte Fahrzeug der Zigeuner).

Calixto Bieito © David Ruano

Und die letzte Szene, vor der Stierkampf-Arena in Sevilla, besteht nur aus einem mit Sand bestreuten Boden, auf dem ein bühnenfüllender Kreis markiert ist: die Arena, Schauplatz des Todes. Statt der üblichen farbenprächtig gewandeten Akteure des Stierkampfes, die sonst über die Bühne paradieren (ich habe dies im letzten Sommer in einer atemberaubenden Produktion der Arena di Verona gesehen), sind da nur die Zuschauer, vor allem ein exzellenter Kinderchor. Die Protagonisten des Stierkampfs sind also nur gleichsam im Spiegel der Zuschauer zu sehen, welche diesen atemlos zuschauen und applaudieren – ein anderes, uraltes, aus dem griechischen Theater stammendes Inszenierungsprinzip: Teichoskopie, Mauerschau – Dinge, die man nicht auf die Bühne bringen kann, weil sie zu groß, zu aufwendig wären und welche die Phantasie des Zuschauers aus ihrem Spiegel, der Reaktion der Darsteller, rekonstruieren muss.

Im Hintergrund dominiert dominant, schwarz und bedrohlich der sogenannte „Osborne Stier“ – eine riesige (14 Meter hohe) Holz-Schablone als Werbung für die alkoholischen Getränke auf 92 spanischen Hügeln, am Rand von Landstraßen und Autobahnen. Der Stier figuriert in zahlreichen spanischen Kinofilmen, er ist – mit deutlich sichtbaren Hoden und riesigen Hörnern – zu einem nationalen Symbol Spaniens aber auch zum Symbol ungehemmter männlicher Sexualität und Gewalttätigkeit geworden.

Bieito hat sich mit expressiven, ja gewalttätig zugespitzten und sexualisierten Inszenierungen an zahleichen großen  Häusern Europas und bereits mehrmals in ENO-Produktionen einen ganz großen Namen gemacht – hier ist er in seinem Element: Einfach phänomenal, wie diese Handlung sich in den Leidenschaften und der Gewalttätigkeit der Figuren entfaltet. Auf dieser fast leeren Bühne braucht es keine Kulissen – die Darsteller, welche gängige Stereotypen spanischer Randgruppen verkörpern, die Soldaten in ihrem kollektiven Testosteron-Rausch, die Arbeiterinnen der Zigarettenfabrik in kreischender Hysterie, die stets gewaltbereiten Zigeuner füllen diesen „leeren Raum“ mit ihrem realistischen Agieren, mit ihrem dynamischen, in ständiger Bewegung befindlichem Einsatz. Man verfolgt dieses dramatische Geschehen in atemloser Spannung.

Sänger und Sängerinnen der Weltklasse

 Selbstverständlich steht und fällt dieses Oper, wohl fast mehr noch als Tosca, Traviata und Lucia di Lammermoor, mit ihrer Protagonistin. Schafft sie es, das Publikum von der ersten Sekunde an in Bann zu ziehen, so ist das Spiel gewonnen. Die italienisch-amerikanische Mezzosopranistin Ginger Costa-Jackson verkörpert diese Figur in absoluter Perfektion – stimmlich, sängerisch und schauspielerisch. Sie ist die personifizierte Verführung: Schön, erotisch bis in die Fingerspitzen, sexuell unwiderstehlich, kapriziös und doch loyal und prinzipientreu: „Carmen lügt nie“ sagt sie am Ende – und man glaubt es ihr. Die „Carmen“ ist ihre Spezialität auf allen Bühnen, und dies zu Recht.

https://commons.wikimedia.org/wiki/File: Ginger Costa-Jackson 2012.jpg

Ihre dunkle und nuancenreiche Stimme – schwerer spanischer Rotwein in herrliche Gesangstöne umgesetzt – stets sicher und präzis besticht bei aller Leidenschaftlichkeit und schauspielerischer Dynamik. Der José des amerikanischen Tenors Sean Panikkar bringt die ganze Tragik des in seinem hoffnungslosen Engagement kompromisslos verliebten Tores zum Ausdruck – mit der rührenden Ungeschicklichkeit eines Kindes, das die Mutter um Liebe anfleht und andererseits der brutalen Blindheit, mit der er (in  dieser Inszenierung noch überhöht) die biedere aber anständige Micaëla zurückstößt. Panikkar wirkt am Anfang seines Auftrittes stimmlich etwas gar zaghaft, wächst aber mit zunehmender Verzweiflung in seiner weichen, warmen Tenorstimme zum vollends überzeugenden José heran. Der Escamillo des panamaisch-amerikanischen Baritons Nmon Ford bringt sonoren Wohlklang auf die Bühne – vor allem im wunderschönen Duett mit Carmen im letzten Akt – lässt aber bei seinem ersten Auftritt im zweiten Akt (Kneipenszene) die dominante, brutale Maskulinität etwas vermissen, mit welcher der Stierkämpfer als das männliche, sexualisierte Gegenstück zur weibliche Erotik verkörpernden Carmen auftritt und sie sehr rasch zu ihrem Schwenk von ihrer vermeintlich großen Liebe José zu Escamillo veranlasst.

Bemerkenswert die englische Sopranistin Carrie-Ann Williams, welche kurzfristig für die erkrankte Gemma Summerfield einspringen musste und sich dieser Herausforderung mit stimmlicher Bravour entledigte – mit strahlenden Höhen und subtilen leisen Passagen. Dass sie diese an sich schon denkbar schwierige Aufgabe in schwindelerregenden Stöckelschuhen zu entledigen hatte, in denen sie unsicher über die riesige Bühne des Coliseum balancierte, war wohl ein sadistischer Einfall der Abendregie.

Erstklassige Chöre, vor allem der Kinderchor im letzten Akt – und ein temperamentvoll und zugleich präzis spielendes ENO-Orchester unter dem namhaften (Royal Philharmonic, London Symphony) britischen Dirigenten Kerem Hasan.

Dr. Charles E. Ritterband, 1. Februar 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Georges Bizet, Carmen Hamburgische Staatsoper, 5. Oktober 2022

Nabucco, Carmen, Elbphilharmonie-Konzert Hamburg, 30. September – 2. Oktober 2022

Carmen, Georges Bizet Staatsoper Hamburg, 17. September 2022 PREMIERE

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