Staatsoper Hamburg: Herbert Fritsch’s klischeebereinigte „Carmen“ kämpft gegen den Farbinfarkt

Georges Bizet  Carmen  Staatsoper Hamburg, 2. Oktober 2024

Foto:  CARMEN/Archiv 2022 (c) Brinkhoff/Mögenburg

Georges Bizet  Carmen
Oper in drei Akten nach Prosper Mérimée
Uraufführung: 3. März 1875, Paris

Erstaufführung (Hamburg): 17. September 2022

Inszenierung: Herbert Fritsch
Bühne: Herbert Fritsch
Kostüme: José Luna

Philharmonische Staatsorchen: Sesto Quatrini

Chor der Hamburgischen Staatsoper: Christian Günther
Kinder- und Jugendchor, Alsterspatzen: Luiz de Goddoy

Staatsoper Hamburg, 2. Oktober 2024

 von Dr. Holger Voigt

Das moderne Musiktheater heutiger Prägung gleicht einem Experimentalraum, in welchem tradierte Werks- und Rollenauffassungen in Frage gestellt, anders gewichtet oder gar vollständig abgeändert werden. Es bleibt bei diesem Ansatz oft nicht aus, dass der Opernbesucher irritiert und überfordert wird, wenn es darum geht, von eigenen erfahrungsbegründeten Vorstellungen Abschied nehmen zu müssen.

Mitunter geht dieses sogar bis hin zum öffentlichen Ärgernis, insbesondere dann, wenn von eigenen Sichtweisen auf das Werk nicht mehr viel übrig bleibt und gar durch die Einarbeitung von „Zeitgeist“-Inhalten eine Neuinszenierung einen plakativen Anstrich bekommt, mit dem nur wenige etwas anfangen können. Da ist der Weg zum Erziehungstheater nicht mehr weit.

Prosper Mérimées (28. September 1803 – 23. September 1870) Romanvorlage zu Georges Bizets(25. Oktober 1838 – 3. Juni 1875) am  03. März 1875 in Paris (Opéra-Comique) uraufgeführten Oper „Carmen“ (Libretto: Henri Meilhac, Ludovic Halévy) verdichtet ein Beziehungsdrama zwischen Liebe, Eifersucht, Geltungssucht bis hin zum tragischen Ausgang (juristisch wohl Totschlag im Affekt), wie er opernhafter kaum sein kann. Bizet, der den späteren Welterfolg nicht mehr erleben konnte, fand in dieser Geschichte eine ideale dramaturgisch zu gestaltende Opernvorlage. In ihr waren die Protagonisten deutlich charakterisiert, so dass Bizet sie musikalisch mit geradezu Leitmotiv-haften Melodien verknüpfen konnte (Habanera, Torerolied). Die Oper kann man als eine romantische, protoversistische Oper im Vorfeld des Puccinischen Musikschaffens auffassen („proto“ = vorangehend).

Der heute 73-jährige Regisseur Herbert Fritsch entrümpelt in seiner hier gezeigten Inszenierung aus dem Jahr 2022 Werk und Publikumerwartungen auf drastische Weise und präsentiert eine klischeebereinigte Bühnenfassung, deren wesentlicher Anteil eine bis zur Erträglichkeitsgrenze ausufernde Farbausstattung von Kostümen und Bühnenbild ist (Bühne: Herbert Fritsch, Kostüme: José Luna). Dabei dosiert er dieses Konzept so hoch, dass die musikalische Ausgestaltung der Oper Schaden nimmt und dabei an die Grenze eines Farbinfarktes gerät.

CARMEN/Archiv 2022 (c) Brinkhoff/Mögenburg

Nachdem offenkundig alle denkbaren  Farben auf der Bühne versammelt sind, schleppt sich die Oper langatmig Szene für Szene über die Bühne. Der Versuch, auftretende Längen durch Slapstick-artige Kleinsthandlungen dramaturgisch aufzulockern, gelingt kaum und wirkt eher gekünstelt, da diese sich nicht aus dem Handlungsduktus von selbst ergeben.

Fritsch lässt die Bühne praktisch frei von jeglichen Bühnenbildrequisiten; einzig die jeweils auf der Bühnen eintreffenden Personen und Personengruppen bestimmen die Optik. Ausnahmen sind eine übergroße Madonnenskulptur im ersten Teil und ein überdimensioniertes Kreuz im letzten Teil, die sich durch ihre unerklärlich bombastischen Dimensionen beinahe wie szenische Ironie ausnehmen.

Auf der Bühne wird sehr viel auf der Stelle marschiert. Der Kinderchor – ich habe ihn bislang stets keck, frech und ungestüm gehört  – kommt schön, aber brav singend grimassierend auf die Bühne marschiert und – da die Zielposition rasch erreicht ist – marschiert er auf der Stelle einfach weiter, was ein wenig nach Fitnesstraining aussieht. Auch an späteren Stellen wird fleißig auf der Stelle marschiert (Chor), da ja sonst nicht viel auf der Bühne passiert.

CARMEN/Archiv 2022 (c) Brinkhoff/Mögenburg

Wer nach einer Zigarettenfabrik sucht, wird keine entdecken, und auch die Stierkampfarena ist im Hintergrund mit dem Konterfei Escamillos lediglich aufgemalt.

Die Kostümfarben sind zwar schön anzuschauen, doch haben sie bis auf die Rottöne bei Carmen und ein puristisch erscheinendes Grausilber bei Micaëla keine dramaturgische Funktion. Die Farbvielfalt erinnert an eine Gartenausstellung, bei der versucht wird, so viele Farben wie möglich zusammenzubringen, um im Wettbewerb den ersten Preis gewinnen zu können. Im Bereich der Kunst gilt allerdings doch recht häufig eher, dass weniger mehr ist – Bespiele dafür gibt es ja viele. Da der Opernbesucher sich diesem Farbreigen nicht entziehen kann, ermüdet das Interesse des Betrachters zunehmend im weiteren Ablauf des Geschehens.

CARMEN/Archiv 2022 (c) Brinkhoff/Mögenburg

Carmen“ ist eine Tragödie, die musikalisch in der Hochphase der Romanik komponiert wurde. Ihre Ähnlichkeit zu anderen Werken dieser Zeitepoche ist unverkennbar: Micaëla ist die Sentaoder Elisabeth Bizets, und auch die Leitmotivtechnik Richard Wagners ist im fünftönigen „Todesmotiv“ unschwer zu erkennen. Schade nur, dass diese musikalische Komponente kaum zur Geltung kommt.

Carmen ist in der Inszenierung von Herbert Fritsch keine Femme fatale, sondern eine feministische Heldin, die sich emanzipatorsch von ihrer gesellschaftlichen Festlegung befreit und dabei Don José vor den Kopf stossen muss, der in seinem Selbstmitleid gefangen ist und zum „Loser“ wird, obwohl er doch als Militärangehöriger symbolistisch Stärke zeigen sollte. Micaëla bleibt originär die reine, gute, um ihre Liebe Kämpfende und Escamillo ist an Narzissmus kaum noch zu toppen.

Musikalisch war der Opernabend allerdings von exzellenter Qualität, und das bis in alle Rollen hinein. Ganz hervorragend präsentierte sich das Philharmonische Staatsorchester unter der Leitung von Sesto Quatrini, das die packende Musik Bizets so akzentuiert und klanggewaltig ausspielen konnte, dass es eine wahre Freude war zuzuhören. Die Seguidilla war ein absolutes Meisterstück! Schade nur, dass die drei Protagonistinnn auf der Bühne weder von Ausdruck, Temperament und Tempo mit der Musik mithalten konnten.

CARMEN/Archiv 2022 (c) Brinkhoff/Mögenburg

Ginger Costa-Jackson, Mezzosopran, als Carmen bot eine sehr ansprechende Leistung. Ihre „Habanera“ war überzeugend gesungen und dargestellt, allerdings mit phasenweise etwas zu lautem Vibrato. Bei ihrer Stimme musste man zuweilen befürchten, dass sie im tieferen Register die Töne eher rufen als singen müsste. Dagegen klang ihre Stimme in den höheren Anteilen kräftig und ausgesprochen klangschön. Ihre sehr gute Leistung wurde mit viel Beifall bedacht.

Der aus Arezzo stammende italienische Tenor Vittorio Grigolo (Don José) befindet sich gegenwärtig fraglos auf dem Zenit seines Könnens. Mit einer raumfüllend wunderschön timbrierten und leidenschaftlich klingenden Tenorstimme überzeugte er alle. Gegenwärtig dürfte er für diese Rolle eine der besten Besetzungen sein.

Narea Son als Micaëla sang mit innig und anrührend klingender, feiner Sopranstimme und erhielt für ihre Arie „C’est des contrebandiers… Je dis que rien ne m’épouvante“ viel Applaus.

Demgegenüber blieb Chao Deng, Bassbariton, als Escamillo eher blass und grundsolide. Der scheinbar unbesiegbare Torero kam gesanglich und darstellerisch wenig zur Geltung. Das lag sicherlich auch an seinen doch recht begrenzten Möglichkeiten, die ihm die Personenregie zugeteilt hatte.

Der Chor der Hamburgischen Staatsoper (Leitung: Christian Günther) sowie der Kinder- und Jugendchor (Leitung: Luiz de Goddoy) waren von bestechender Qualität. Auch wenn Zigarettenrauch nicht zu erkennen war, schwebte er musikalisch mit grandioser Leichtigkeit durch die Staatsoper!

Für alle Mitwirkende gab es großen, verdienten Applaus, allen voran für Vittorio Grigolo und Ginger Costa-Jackson. Aber auch Chöre und Orchester wurden mit viel Beifall und Begeisterung bedacht.

Dr. Holger Voigt, 13. Oktober 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Besetzung:

Carmen: Ginger Costa-Jackson, Mezzosopran
Escamillo: Chao Deng, Bassbariton
Don José: Vittorio Grigolo, Tenor
Micaëla: Narea Son, Sopran
Zuniga: Han Kim, Bass
Moralès: Nicolas Mogg, Bariton
Mercédès: Kady Evanyshyn, Sopran
Remendado: Peter Galliard, Tenor
Dancaïro: Nicolas Mogg, Bariton
Frasquita: Hongping Ruan

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