Carmen Lübeck Photos: Jochen Quast
„Jeden Tag wird in Deutschland eine Frau umgebracht, nur, weil sie eine Frau ist“. Das weiß der Regisseur von Georges Bizets „Carmen“ am Theater Lübeck, Philipp Himmelmann, und offenbar ist diese erschreckende Wahrheit noch nicht überall angekommen. Um das Thema in aller Drastik auch auf die Opernbühne zu bringen, dazu lebt, liebt, singt und stirbt diese „Carmen“, weitab von Flamenco-Kitsch und Folklore.
Georges Bizet, „Carmen“
Theater Lübeck, 3. Juli 2025
(Premiere am 20. Juni)
Ieva Prudnikovaite, Mezzosopran
Konstantinos Klironomos, Tenor
Evmorfia Metaxaki, Sopran
Jacob Scharfman, Bariton
Changjun Lee, Bass
Andrea Stadel, Sopran
Noah Schaul, Tenor
Stefan Vladar, Dirigent
Philipp Himmelmann, Inszenierung
Chor und Extrachor des Theaters Lübeck
Philharmonisches Orchester der Hansestadt Lübeck
von Dr. Andreas Ströbl
Entkleidete Pseudo-Romantik
Seien wir ehrlich – man rollt schon mit den Augen, wenn man spätestens am Samstagmorgen und ansonsten fast täglich auf einem der sogenannten Kultursender, von denen einige den Namen nicht mehr verdienen, schon wieder und immer aufs Neue die Habanera aus „Carmen“ hört.
Oft genug wird diese Oper mit einem angeblich zwingend damit verbundenen Lokalkolorit, sprich: folkloristischen Versatzstücken aufs Langweiligste inszeniert, natürlich mit Kinderchor, gewürzt mit der Testosteron-Extradosis eines Soldaten mit einem Aggressionsproblem und eines Stierkämpfers, der Tiere ohne jede Chance aufs Überleben zum Spaß der Gesellschaft abschlachtet.
Schuld an allem ist natürlich eine Frau, die als „Zigeunerin“ sowieso am Rande der zivilisierten Gesellschaft steht und mit ihren Glutaugen die Männer verrückt macht – geht ja gar nicht anders, oder? Geht doch, wie das Theater Lübeck beweist. Diese „Carmen“ ist entschlackt und auf das Wesentliche reduziert. Philipp Himmelmann inszeniert wie in einem packenden Krimi den Femizid hart und quälend gleich zu Beginn; er lässt gar keine Spanien-Romantik aufkommen, die ebenso billig wäre wie die Postkarten mit den Flamenco-Tänzerinnen und aufgestickten Kunstfaser-Rausche-Röcken, die man immer noch in touristischen Zentren Spaniens kaufen kann.

Himmelmann sieht genau hin, schildert die rasch verlaufende psychische Störung des Täters und entwirft vor allem eine Hauptrolle, die selbstbewusst, stark und einfach nur sie selbst ist. „Als Gesetz dein eigener Wille“, ist ihr Credo, und das ist genau das, was Nietzsche an dieser Figur so fasziniert hat: Gesellschaftliche Standards sind sekundär, es geht um die Freiheit des Individuums. Wer sich daran stört, muss damit umgehen, hat aber nicht das Recht, einen Menschen umzubringen, weil sie oder er nicht in das Schema der wiederum eigenen Pläne passt.

Überrollt von Emotionen und Geschehnissen
Die Bühne von Dieter Richter dominiert eine riesige aufgeschnittene Stahlröhre oder vielmehr eine erstarrte Welle aus rostigem Metall – ist sie wirklich so statisch oder kann sie in jedem Moment über den Mitwirkenden zusammenbrechen und sie erschlagen? Mit der immer wieder turbulent, wie im Rausch der Empfindungen eingesetzten Drehbühne wirkt dieses der Produktion angemessen reduzierte Bild spannungsreich und konzentriert alles auf die Mitwirkenden. Falk Hampels kluge Lichtregie unterstützt dieses Konzept und lässt in emotional aufgeladenen Situationen mitunter das Innere der harten Welle rot erglühen.
Rot ist auch das Seil, mit dem Carmen nach dem handfesten Konflikt mit einer anderen Frau gefesselt werden soll, und das von oben auf die Bühne herabgelassen wird. Ein bisschen wirkt diese rotsamtene Schlange wie die Requisite aus einem Erotik-Etablissement – zunächst scheint José eine Art Bondage-Spiel mit ihr zu beginnen, doch sie löst sich, nun ihn fesselnd, aus den Schlingen. Beide sind offensichtlich Gefangene ihrer Gefühle, aber Carmen lässt sich nicht beherrschen und befreit sich.

All diese Szenen sind Rückblenden, denn man hat den Mord vom Beginn andauernd im Kopf, zudem liegt Carmens lebloser Körper (als Double) die gesamte Zeit am vorderen Bühnenrand. Obwohl man auch ohne diesen intelligenten Einfall weiß, wie die Geschichte ausgeht, gestaltet sich die Handlung durch das Spiel sämtlicher Akteure soghaft spannungsvoll.
Allen voran formt Ieva Prudnikovaite eine Carmen, die zwar unbeschreiblich weiblich flirtet, umgarnt und schwärmt, aber eben stets Herrin ihrer selbst und aufrecht, gleichwohl wie aufrichtig ist. Wenn auch die Mezzosopranistin liegend den Beginn der Habanera nach unten in den Bühnenboden singt, dringt jeder Ton ihrer glutvollen Stimme tief in den letzten Winkel des Saales und in die Herzen des Publikums. Diese „Carmen“ ist schlichtweg umwerfend und man hat zwischenzeitlich schon fast Mitleid mit José, für den diese weibliche Macht eine Nummer zu groß ist.
Konstantinos Klironomos gibt dem zunehmenden psychischen Ausnahmezustand dieses Liebestollen ergreifenden Ausdruck, sein kraftvoller Tenor scheint zuerst wenig von der beschworenen Leidenschaft nach außen zu tragen, aber er steigert sich immer mehr in den Ausdruck von Besessenheit und letztlich hilflosem Ausgeliefertsein hinein. Dieser José ist hier zwar vor allem Frauenmörder, aber die Regie verschafft einen klugen psychologischen Blick in seine Seele und deren krankhafte Entwicklung.
Der Nebenbuhler Escamillo ist eine Paraderolle für Jacob Scharfman, dieser Stierkämpfer platzt fast vor Testosteron. Stimmlich und darstellerisch definiert der Bariton den Begriff der Virilität hier nochmal neu. Sein Degen fällt wie die Ankündigung seines Auftritts von oben herab und bohrt sich in den Bühnenboden – was für ein genialer und überraschender Effekt!
Das Kostüm hat Meentje Nielsen in seinem Falle traditionell gestaltet, während alle anderen eher uniform erscheinen – die Männer in einer blut- oder dreckfleckigen Militärkluft, die schon bessere Zeiten gesehen hat, die Frauen in schwarzen Midi-Kleidern mit ebenfalls rotbraunen Flecken am Rock und knallroten Schuhen. Was wie ein Tanzgruppen-Klischee wirkt, schafft eine Gleichförmigkeit in der Gewandung, aus der sich die Mitwirkenden durch Spiel und Gesang in die Individualität schrauben.
So ist Evmorfia Metaxakis Micaëla durch eben diese Eigenheit weit mehr als eine Nebenrolle, ihr strahlender Sopran changiert zwischen Mädchenhaftigkeit und bestimmter Fraulichkeit. Ihr ebenso verzweifelter wie erfolgloser Versuch, José den Brief seiner Mutter zu übergeben, zieht sich leitmotivisch durch die ersten drei Akte und rückt sie durch ihre fast durchgehende Präsenz deutlich stärker in den Fokus.
Auch die Frasquita von Andrea Stadel, der Remendado von Noah Schaul und Wonjun Kim als Dancaïro überwinden jeden Anschein von Untergeordnetheit, Changjun Lee als Zuniga brilliert erneut mit starkem Bass. Delia Bacher als Mercedes und Viktor Aksentijević, der den Morales gibt, vervollkommnen diese Riege; sie alle überzeugen durch ihren klaren, sicheren Gesang und ihre agile Darstellung.

Chor und Extrachor des Lübecker Theaters unter der Leitung von Jan-Michael Krüger sind auch in dieser Produktion nicht nur präsent, spielfreudig und stimmgewaltig, sondern ausgesprochen exakt; trotz aller Synchronizität klingen auch die Einzelstimmen in den jeweiligen Einsätzen geschliffen und kräftig heraus.
Leidenschaftliche Dynamik in zweifacher Hinsicht
Die „Carmen“ braucht – und das ist kein Klischee – Pfeffer und, um in der Metapher zu bleiben, am besten Habanero-Chilis. Stefan Vladar und das Philharmonische Orchester der Hansestadt Lübeck geben wirklich alles, um diese aufgeladene Musik mit aller Hitzigkeit und emotionaler Wucht aus dem Graben zu entlassen. Das Tempo ist schmissig-rasant, was die Handlung unterstützt, ja den Aktionen erst den nötigen Anschub gibt.
Aufrüttelnde Forte-Passagen schon zu Beginn entsprechen der Brutalität des Geschehens, durch die mehrfachen Messerstiche gleichsam ein Übertöten; Carmens langsames Sterben mit kaum erträglichen Zuckungen ihres verwundeten Leibes erhält durch die Partitur hier noch eine tiefer in die Seele schneidende Schärfe.
Zauberhaft zart allerdings gerät der Beginn des dritten Aktes; das sind Takte zum Schwelgen und Durchatmen, bevor es wieder in die existentielle Härte geht.

Vor der Stierkampf-Szene flattert ein gigantisches rotes Tuch als Symbol für den täuschenden Stoff des Toreros und das Blut, das alsbald vergossen wird, auf die Bühne herab – ein wunderschönes, großartiges Bild, dessen Ästhetik aber doppelten, weil schmerzhaften Boden hat.
In der Finalszene schließt sich der Kreis dieser Interpretation und auch wer die „Carmen“ Dutzende Male gesehen und die Musik noch weit öfter gehört hat, wird sich hier der Dramatik des Geschehens nicht entziehen können. Das Publikum dieser zweiten Aufführung hat wirklich bei jeder musikalischen Pause geklatscht, aber dann sind es solche Momente, die alle in den Bann eines schrecklichen Ereignisses ziehen und plötzlich verstummen lassen.
Stehender Beifall und enthusiastische Bravo-Rufe belohnen die Gesamtleistung von Mitwirkenden und für die Inszenierung Verantwortlichen. Eine grandiose Produktion, die alle sehen sollten, die wissen wollen, was die „Carmen“ eigentlich erzählt.
Die letzte Vorstellung in dieser Spielzeit ist am 11. Juli. Wiederaufnahme in der nächsten Saison!
Dr. Andreas Ströbl, 4. Juli 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at