Hélène Bouchet in Ghost Light (Videostills Arte)
Hamburg Ballett, 16. Juni 2021
46. Hamburger Ballett-Tage: „Ghost Light“, Ballett von John Neumeier
Die Bandbreite an unterschiedlichen Tänzerpersönlichkeiten, die Neumeier mit seiner Ghost Light-Kreation auf die Bühne brachte, ist schlicht überwältigend: Hélène Bouchet mit den anmutigen Bewegungen ihrer langen Arme und Beine, vor allem aber Silvia Azzoni und Alexandre Riabko mit einer immer wieder aufs Neue zu bewundernden tänzerischen Präzision und Darstellung einer innigen Verbundenheit, die ein Leben überdauert und bis in den Tod reicht.
von Ralf Wegner
Es war meine zweite Aufführung vor Ort, sie unterschied sich von der ersten, im September 2020 gesehenen und vor allem von der etwas später im Fernsehen ausgestrahlten und mittlerweile auf DVD und Blue Ray erhältlichen sehenswerten Filmfasssung dieses Balletts. Ein im Saal erlebtes Ballett ist aber nicht mit einer Filmfassung zu vergleichen. Beim Film handelt es sich um eine Nahsichtversion, die weiteres Geschehen auf der Bühne zumeist ausblendet. Man sieht das Stück mit den Augen der Regie und lässt sich auch stärker von mimischen Details und Einzelaktionen beeindrucken.
Die Aura einer Tänzerin oder eines Tänzers reicht jedoch weiter, über das Mimische hinaus. Sie ist auch noch in der Entfernung spürbar, auch ohne mimische Details registrieren zu können. Erwähnt sei Emilie Mazon; diese Tänzerin hatte bei der Aufführung von „Ghost Light“ im letzten Jahr zwar wenig zu tanzen, dank ihrer immanenten Darstellungskraft gelang es ihr aber, der als Geist erscheinenden Nussknackermarie eine unvergessene Aura zu verleihen. Olivia Betteridge, welche diesen Part gestern tanzte, hatte diese Ausstrahlung noch nicht. Auch ließ Alexandr Trusch als Günther das jungenhaft leichte, zukunftsgewandt Fröhliche seines Vorgängers Atte Kilpinen nicht vergessen.
Trusch übernahm dafür von Karen Azatyan die Rolle des Freundes; nicht mehr als der vom Jüngeren bewunderte Ältere, sondern eher als der herumtollende Jugendfreund. Beide, Trusch und Atte Kilpinen, tanzten ganz ausgezeichnet und erhielten, angesichts der lautlosen Stille des wie gebannt wirkenden Publikums, relativ schüchternen Zwischenbeifall für ihren beeindruckenden Auftritt.
Leslie Heylmann war auch neu, sie hatte von Patricia Friza übernommen. Tänzerisch war sie perfekt, wirkte vom Tanzstil her allerdings eher geglättet-impressionistisch, zumindest im Vergleich mit Friza. Diese ist mir seit ihrem bemerkenswerten Auftritt als Dolly in Neumeiers Anna Karenina-Version als innerlich rebellische, nach außen eher zittrig-schüchterne und sich dem Schicksal ergebende Darstellerin in Erinnerung geblieben; sie hatte diesen Eindruck auch in ihrem Ghost Light-Part hinterlassen. Wenn man so will, ihr Tanzstil war eher eckig-expressionistisch und ähnelte darin durchaus Aleix Martinez, der auch gestern solistisch mit der ihm eigenen expressiv-kantigen Darstellung beeindruckte.
Die Bandbreite an unterschiedlichen Tänzerpersönlichkeiten, die Neumeier mit seiner Ghost Light-Kreation auf die Bühne brachte, ist schlicht überwältigend: Hélène Bouchet mit den anmutigen Bewegungen ihrer langen Arme und Beine, vor allem aber Silvia Azzoni und Alexandre Riabko mit einer immer wieder aufs Neue zu bewundernden tänzerischen Präzision und Darstellung einer innigen Verbundenheit, die ein Leben überdauert und bis in den Tod reicht.
Was diese beiden rein physisch seit mehr als einem Vierteljahrhundert beim Hamburg Ballett immer noch leisten, grenzt an ein Wunder. Der mittlerweile 43-jährige Riabko ist immer noch in der Lage, sich wie ein Springball mit geringem, fast lautlosen Bodenkontakt in der Luft zu halten, sich dort beeindruckend zu drehen und sich, als Zitat aus seinem Nijinsky-Part, weit nach vorn auf den Boden zu werfen. Das muss unglaublich anstregend sein, es ist ihm nicht anzumerken. Während des Männer-Pas de deux von dem diesmal mit Kurzfrisur auftretenden David Rodriguez und seinem Partner Matias Oberlin saß Riabko vorn links auf der Bühne mit in sich gekehrtem Ausdruck. Man konnte es erkennen, das Leben lief vor seinem geistigen Auge ab. Das ist wohl auch Neumeiers choreographischer Blick auf das Leben, das Ende und den Beginn einer Beziehung, einer Liebe oder des Lebens auf der Bühne gleichzeitig zu zeigen.
Der immer fröhlich wirkende Marcelino Libao hatte gestern mit sprungstarken Einlagen wohl einen seiner letzten Auftritte. Mit der neuen Saison ist er nicht mehr im Ensembleverzeichnis aufgeführt. Ebenfalls wird der ausdruckstarke Marc Jubete, der als Jesus in Neumeiers „Matthäus-Passion“ oder als Konstantin in der „Möwe“ überzeugte, nicht mehr zum Hamburg Ballett gehören. Dafür wird seine gestrige Partnerin Yaiza Coll in den Rang einer Solistin aufsteigen. Sie hat diese innere Ausstrahlung, die man vermutlich nicht erlernen kann. Wir nahmen sie erstmals vor drei Jahren als Mutter bzw. Maria im „Weihnachtsoratorium“ wahr. Gestern fiel sie mit ihren angedeutet schlängelnden, sich unter dem Partner Jubete windenden Bewegungen sehenswert auf.
Auf dem Programmzettel zur gestrigen Aufführung wurde auf das Corona-Abstandsgebot des Sommers 2020 hingewiesen. Die Pas de deux seien ausschließlich mit Ehepaaren oder Lebenspartnern besetzt. Das galt aber nicht mehr für Anna Laudere, deren Ehemann Edvin Revazov erkrankungsbedingt eindrucksvoll durch den hochgewachsenen Florian Pohl ersetzt wurde. Auch Madoka Sugai und Nicolas Gläsmann, Christopher Evans und Félix Paquet, Jacopo Bellussi, Marià Huguet sowie Ana Torrequebrada trugen zum perfekten Gelingen der gestrigen Aufführung bei; ebenso das Klavierspiel von David Frey (Musik von Franz Schubert). Der Jubel des Publikums war langandauernd und galt allen mitwirkenden Tänzerinnen und Tänzern, dem Pianisten und dem schließlich sein Ensemble anführenden John Neumeier.
Ralf Wegner, 17. Juni 2021, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at