Foto: © Salzburger Festspiele / Monika Rittershaus
Salzburger Pfingstfestspiele, Mozarthaus, Salzburg, 18. Mai 2018
Giacchino Rossini, L’italiana in algeri
Jean-Christophe Spinosi, Musikalische Leitung
Moshe Leiser & Patrice Caurier, Regie
Cecilia Bartoli, Isabella
Peter Kálmán, Mustafa
Edgardo Rocha, Lindoro
Alessandro Corbelli, Taddeo
José Coca Loza, Haly
Rebeca Olvera, Elvira
Rosa Bove, Zulma
Philharmonia Chor Wien
Ensemble Matheus
Luca Quintavalle, Hammerklavier
Von Raphael Eckardt
Mit einer Neuproduktion von Giacchino Rossinis „L’italiana in algeri“ starten auch die diesjährigen Salzburger Pfingstfestspiele standesgemäß mit einem echten Opernhighlight. Freilich, das ist man mittlerweile gewöhnt im oft regnerischen Alpenidyll, eine Besonderheit hatte man dieses Jahr aber dennoch zu bieten: Cecilia Bartoli, die künstlerische Leiterin der diesjährigen Pfingstfestspiele und gleichzeitig furiose Titelprotagonistin des Abends, hatte sich über die Programmzusammenstellung besonders intensiv Gedanken gemacht.
Aus einem Gedenkjahr an Rossini gestaltete die vielleicht größte Operndiva unserer Zeit kurzerhand eine Reflexion über die Zeitenwende des Jahres 1868. Dies behauptet jedenfalls Festspielintendant Markus Hinterhäuser, und dafür mag er freilich gute Gründe haben! Als Rossini 1868 das Zeitliche segnet, steht der Gesellschaft der vielleicht größte musikalische Umbruch seit dem Beginn des Schaffens von Joseph Haydn bevor. Am selben Tag der Uraufführung von Rossinis „L’italiana in algeri“ (am 22. Mai 1813) wird ein gewisser Richard Wagner geboren, und während die Erfolge des italienischen Opernaltmeisters in den Folgejahren langsam zu Neige gehen, avanciert Jacques Offenbach zum echten Star der Opernszene. Über ebendiesen Offenbach wird man auch noch sprechen bei den Salzburger Pfingstfestspielen. Nämlich dann, wenn am zweiten Abend dessen „La Perichole“ über die Bühne geht.
Die vom kongenialen Regie-Duo Moshe Leiser und Patrice Caurier konzipierte Neuinszenierung von Rossinis Klassiker kann von Beginn an durch Einfallsreichtum und tiefkritischen Klamauk überzeugen. Eine italienische Dame nutzt ihren Charme, um den wenig kultivierten und seiner eigenen Liebschaften überdrüssigen Bey von Algerien auszutricksen und so ihren sich in Gefangenschaft befindenden Liebhaber zu befreien. Mustafá wird von ihr kurzerhand zum Pappataci, einem selbst erfundenen italienischen Adelstitel, der übersetzt etwa „kindlicher Vielfraß“ bedeutet, ernannt, für den der Auserwählte ein üppiges Mahl zu verzehren und nicht auf das Geschehen um ihn herum zu achten hat.
Bei dieser Handlung, im Zusammenhang mit dem Wissen um aktuelle geopolitische und religiöse Konfliktherde dieser Welt, wird schnell klar, dass Rossinis Oper eine Inszenierung benötigt, die kulturelle Konfliktpotentiale zwar offen ansprechen, sich hierbei aber keineswegs an zu einseitigen Klischees bedienen darf. Leiser und Caurier erledigen diese Aufgabe mit Bravour!
Ihre Inszenierung verpflichtet sich von Beginn an einem modernen Orientalismus, der sich trotz aller Komödie überwiegend durch Realitätsnähe und fein dosierte Spitzfindigkeit auszeichnet. Im Hintergrund ist da beispielsweise eine typisch orientalische Häuserblockfassade mit allerlei Graffiti und Detailverliebtheit zu betrachten. An jedem Balkon eine Satellitenschüssel hängend, wehen bunte Decken und Tücher an den Geländern umher. Atmosphärisch wunderbar untermalt spielt sich nachfolgend ein detailverliebter Kulturkonflikt zwischen italienischer Hoch- und algerischer Subkultur ab, der teilweise gar durch einzelne Objekte ausgezeichnet verbildlicht wird. Ein weißbeige schimmernder Mercedes mit geöffnetem Kofferraum steht plötzlich vor der Fassade. Augenblicklich vom europäischen Edelschlitten begeistert, wird bei zweitem Hinsehen schnell klar: Das Auto ist alt, der Lack ist spröde und reichlich Kratzer zieren die Seiten. Kurzum: Eine Karosse, die man heutzutage wohl beinahe häufiger in Algerien als in feinen italienischen Metropolen wie Rom oder Mailand antreffen dürfte. Ähnliches gilt, als eine schicke und täuschend echte Kamelfigur, die einen deutlich nobleren Eindruck als der abgenützte Mercedes zu machen scheint, beim Auftritt von Isabella über die Bühne gezogen wird. Leiser und Caurier drehen etwaige Klischees kurzerhand um, um sie auf die jeweils kontrastäre Kultur zu projizieren. Das verhindert nicht nur eine müde Orientalismusdarstellung á la Tausendundeine Nacht, sondern ist auch sonst ungemein erfrischend!
Als sich dann eine Gruppe von Tifosi und gebeutelten Fußballern im Trikot der Squadra Azzurra im manierlosen Synchron-Spaghettiessen versuchen darf, scheint der kleinste gemeinsame Nenner beider Kulturen endlich gefunden zu sein: Das sonst bei dieser Oper oft in der muslimischen Kultur dargestellte „rohe“ und beschämende Machogehabe wird kurzerhand komödiantisch auf den klischeeproletenhaften, europäischen Fußballfan projiziert. Klischeedarstellung mit Hilfe von kontrastärer Klischeedarstellung also! Was Leiser und Caurier an diesem Abend präsentieren, ist nicht nur ein gesellschaftskritisch überaus geglücktes Meisterwerk, sondern auch ganz ganz große Bühnenkunst! Chapeau die Herren, das mache Ihnen erst mal einer nach!
Musikalisch ist dieser Abend ohnehin von einem anderen Stern. Und freilich, bei einem Besetzungszettel dieser Klasse mag das schnell als allgemeine „Rezensionsfloskel“ verstanden werden. Aber: Das, was Bartoli und Co da abliefern, ist beinahe schon geschichtsträchtig! Als waschechte Italienerin gibt sie eine Isabella zum besten, die authentischer und fantastischer eigentlich nicht sein könnte. Mit der für sie bekannten ausgezeichneten Gesangstechnik und warmwohliger fein timbrierter funkelnder Sopranstimme schmettert Bartoli im roten Sommerkleid eine Fabelleistung aufs Parkett. Wie eine Seiltänzerin zwischen zwei nordafrikanischen Hochhausfassaden im dichten Großstadtdschungel balanciert sie da auf einem schmalen Grat zwischen Genie und Wahnsinn. Plötzlich gerät alles ins Wanken, doch Bartoli scheint sich von den Gesetzen der Schwerkraft zu befreien. Mit ausdrucksstarker und bachklarer Diktion provoziert sie das verwöhnte Festspielpublikum bereits in ihrer Auftrittsszene zu donnerndem Applaus. Cruda sorte! Amor tiranno! Bartoli hat sie alle in ihren Bann gezogen.
Im zweiten Akt ist dann besonders die Cavatina „Per lui che adoro“ hervorzuheben. Dicht durchwobene Gesangsbögen fügen sich durch feines Ab- und Anschwellen der Spitzentöne nahtlos in die alpine Umgebungslandschaft Salzburgs ein. Innigste Piani mit präzise justierter Noblesse wechseln sich mit donnernden Fortissimi ab, die aber keinesfalls grob oder klobig wirken. Das ist gesangliche Champions League par excellence! Fabelhaft!
Mit Edgardo Rocha als Lindoro steht ihr dann ein kaum weniger bravouröser Mitstreiter zur Seite, der Bartolis Leistung eigentlich erst vergoldet. Mit durchdringender, klarer Tenorstimme gibt Rocho einen phänomenalen Primo Uomo, der vor allem durch voluminöse aber stets druckfreie Spitzentöne zu überzeugen weiß. Zwei polternde Orchesterschläge und ein dynamisch feinfühliges Hornsolo kündigen die technisch herausragend schwere Arie „Languir per una bella“ an. Rocha nimmt sie wie ein einfaches Kinderlied: Sichtbar unbemüht tanzt er da zwischen Spitzen- und Tiefentönen hin und her. Sicher wie ein Schlafwandler, der über einen farbenfrohen Regenbogen zu laufen scheint, schwingt er sich in schwindelerregende Höhen auf. Nur, um dann wohlbehalten wieder abzusteigen! Das Publikum honorierte diese mehr als nur fantastische Gesangsleistung völlig zurecht mit regelrechten Begeisterungsstürmen.
Bei einem solchen Sängerpaar ist man als Mustafa freilich beinahe undankbar in der Pflicht. Doch dieser Druck scheint für Peter Kálmán erst recht Ansporn für eine weitere Weltklasseleistung an diesem Abend zu sein. Rossini und sein Librettist Angelo Anelli bedachten die Rolle des Mustafa zwar nur mit einer einzigen Arie, diese singt Kálmán aber so nahe an der Perfektion, wie man es nur selten hört: „Gia d’insolito ardore“. Weniger als karikatureske Überzeichnung eines recht rohen und frauenfeindlichen Muslims, denn vielmehr als tollpatschiger Rotlicht-Lebemann dargestellt, präsentiert Kálmán einen naiv-glückseligen Mustafa, der vor allem durch enorm voluminöse Vibratofassaden begeistert. Hier eine feine Akzentuierung, dort ein blitzsauber genommenes Phrasierungsmotiv. Kálmán präsentiert an diesem Abend eine satirisch anmutende Kunstfigur, von der man beinahe den Eindruck hat, er habe sie selbst konzipiert. Bravo!
Mit Alessandro Corbelli als Taddeo steht einem furiosen Solistentrio ein weiterer Mitstreiter mit phänomenalem Schauspieltalent zur Seite. Sängerisch bravourös überzeugt Corbelli in einer schauspielerisch höchst anspruchsvollen Rolle vollends. Im pinkfarbenen Trainingsanzug besingt er mit eindrucksvoller Stimmwucht seinen neu errungenen Titel des Kaimakan. Bei dieser frischen und junggebliebenen Stimme ist es kaum zu glauben, dass jener Mann seit nunmehr circa 40 Jahren auf den Bühnen dieser Welt steht. Dass Caurier und Leiser in ihrer Inszenierung ausgerechnet Taddeo in eine Unterhose mit „Superman-Logo“ kleiden, passt da freilich sensationell.
Der Philharmonia Chor Wien und das Ensemble Matheus unter der Leitung von Gründungsvater Jean-Christophe Spinosi runden eine musikalische Gala der Extraklasse durch tiefgründiges musikalisches Verständnis ab. Schon im Orchestergraben werden da Kontraste geschaffen, die sich auf ideale Weise in Leiser und Cauriers Inszenierung einfügen. Vielleicht ist das dann auch das wertvollste Gut, das dieser Abend zu bieten hat: Mit Spannung hatte man Inszenierung und Solistenpartien „dieser Italienerin in Algier“ im Vorfeld erwartet. Dass die Orchester- und Chordarbietung dieser musikalischen Galavorstellung nicht nur keinen Abbruch tut, sondern sie vielmehr in hellstem Glanze vollendet, macht diese Opernproduktion zweifelsohne zu einer der besten Rossinivorstellungen aller Zeiten. Oh Salzburg, da hast du dich zum Auftakt gleich wieder in allerbestem Lichte präsentiert!
Raphael Eckardt, 19. Mai 2018, für
klassik-begeistert.de